Woher kommen die Existenzängste bei Eltern in München? "Kann nichts dafür, dass Förderung illegal war"

Bis jetzt sind Krippen und Kitaplätze in München günstig. Doch die Stadt wird ein neues Fördersystem beschließen – und für manche Eltern könnten sich die Beiträge sogar verfünffachen. Hunderte Eltern demonstrieren deshalb. Sie fühlen sich im Stich gelassen.
von  Christina Hertel
Hunderte Eltern demonstrieren auf dem Odeonsplatz gegen das neue Fördersystem der Stadt, das ab September für Kita-Plätze gelten soll.
Hunderte Eltern demonstrieren auf dem Odeonsplatz gegen das neue Fördersystem der Stadt, das ab September für Kita-Plätze gelten soll. © Loeper

München - Da ist ein Biologe, mit Doktortitel, der lieber anonym bleiben will. Geackert hat er immer, ohne Ende, sagt er. Trotzdem könnte es passieren, dass die Familie bald jeden Monat ein Minus von 400 Euro auf dem Konto hat. Die Kita, die sein Sohn und seine Tochter besuchen, hat in einem Brief angekündigt, die Beiträge um das Fünf- bis Sechsfache zu erhöhen. Statt 450 Euro würde die Familie dann 2400 Euro bezahlen.

Bei der Wirtschaftlichen Jugendhilfe, das ist die Stelle bei der Stadt, die Familien in finanziellen Notlagen hilft, hat er schon angerufen. "Aber die haben das Telefon abgestellt", sagt er. Auf eine E-Mail, die er vor zwei Wochen schrieb, habe er keine Antwort bekommen. Plötzlich bei der Stadt um Geld betteln zu müssen, fühlt sich "beschissen" an, sagt er.

In Wien kostete der Kita-Platz 150 Euro 

Vor ein paar Monaten zog die Familie von Wien nach München. "Eigentlich fühlen wir uns hier wohl", sagt er. Doch zumindest wegen der hohen Kosten bereut er den Umzug doch: 150 Euro Verpflegungsgeld habe die Familie in Wien pro Kind für die Kita zahlen müssen. Und jetzt vielleicht bald so viel wie ein Mensch in der Mittelschicht im Monat verdient? Seine Frau frage sich nun, ob es sich wirklich lohnt, zu arbeiten – wenn praktisch ein ganzes Gehalt für die Kinderbetreuung drauf geht. "Wir haben Existenzängste", sagt er. Und deshalb sind seine Frau und er am Mittwochnachmittag auf den Odeonsplatz gekommen. Hunderte Mütter und Väter demonstrieren hier mit ihren Kindern. Denn so wie dem Biologen und seiner Frau geht es gerade vielen Eltern in München.

Tausende Kinder in München besuchen eine private Kita, weil sie in einer städtischen keinen Platz bekommen haben. Bis jetzt sind die Gebühren günstig. Doch das könnte sich ab September ändern.
Tausende Kinder in München besuchen eine private Kita, weil sie in einer städtischen keinen Platz bekommen haben. Bis jetzt sind die Gebühren günstig. Doch das könnte sich ab September ändern. © Daniel Loeper

Bis jetzt bezuschusst die Stadt Krippen und Kindergartenplätze nach der sogenannten "Münchner Förderformel". In Einrichtungen, die sich ihr angeschlossen haben, müssen Eltern in der Regel für den Kindergartenplatz nichts und für die Krippe maximal 162 Euro zahlen. Hinzu kommt das Essensgeld. Auch 191 private Kitas sind Teil dieses Systems. 154 andere private sind es nicht, sie legen ihre Preise komplett selbst fest.

Eine private Kita klagte gegen die Förderung. Denn die Gelder der Stadt fließen nur, wenn sich die Einrichtungen an bestimmte Bedingungen halten. Das Gericht gab dem Kläger im Herbst 2021 recht: Der Eingriff in den Wettbewerb sei zu groß. Unterstützt hatte die Klage der CSUler Andreas Lorenz mit seinem Verband, der die Interessen der privaten Kitas vertritt. Er ist auch zur Demo auf dem Odeonsplatz gekommen. Seltsam findet er das nicht. Er habe schließlich nur auf ein Unrecht hingewiesen, sagt er. "Ich kann ja nichts dafür, dass die Förderung illegal war."

Förderung für Kita-Gebühren in München: Der Freistaat müsste ein Gesetz ändern 

Damit die Stadt die Förderung beibehalten kann, hätte der CSU-regierte Freistaat ein Gesetz ändern können. Die CSU-Stadtratsfraktion appellierte an ihre Kollegen im Landtag, ohne Erfolg, wie die CSU-Stadträtin Beatrix Burkhard zugeben musste. Bis Herbst saß Lorenz dort noch als Abgeordneter. Die Stadt musste sich also ein System überlegen. Und obwohl für die SPD im Rathaus der kostenlose Kindergarten so etwas ist wie der Mindestlohn für ihre Kollegen im Bundestag – nämlich nicht verhandelbar – kann es passieren, dass plötzlich Tausende Familien in München Hunderte Euro mehr für den Kita-Platz zahlen müssen.

Das neue System, das der Stadtrat nächsten Mittwoch in der Vollversammlung endgültig beschließen wird, ist ein sogenanntes Defizit-Ausgleichsmodell. Gewinne sind damit gar keine mehr möglich. "Aber private Unternehmen müssen nun mal Gewinne erwirtschaften", sagt Nicole Heldeisen. Sie ist eine der Organisatorinnen der Demo und sie hat vor einem Jahr die Petition "Rettet unsere Kita-Plätze mit Münchner Förderformel gestartet". 10.000 Menschen haben inzwischen unterschrieben.

Nicole Heldeisen (rechts) hat die Demo organisiert. Weil sie keinen Platz in einer städtischen Kita bekommen hat, geht ihr Sohn in eine private.
Nicole Heldeisen (rechts) hat die Demo organisiert. Weil sie keinen Platz in einer städtischen Kita bekommen hat, geht ihr Sohn in eine private. © Daniel Loeper

Fast 200 private Kitas gehören momentan der städtischen Förderung an. Über 7000 Plätze sind das. Einige Einrichtungen haben schon Briefe verschickt, dass sie nicht mitmachen werden bei dem neuen Modell und die Beiträge erhöhen werden. Die fünf- bis sechsfachen Kosten begründet die Kita des verzweifelten Biologen auch mit gestiegenen Personalkosten.

170 Millionen Euro plant die Stadt München für die Kita-Förderung ein 

Nicole Heldeisen weiß, dass Grüne und SPD im Stadtrat stets betonen, dass das Defizitsystem die einzige Möglichkeit sei, überhaupt noch günstige Plätze anbieten zu können. So wie bei der Münchner Förderformel können sich alle anschließen – theoretisch. Und so wie jetzt auch plant die Stadt 170 Millionen Euro Förderung pro Jahr ein. Aus Sicht von Nicole Heldeisen ist das neue Modell trotzdem eine schlechte Notlösung. "Man hätte weiter nach einer anderen Lösung suchen und mit dem Land sprechen müssen", meint sie.

Den Unmut der Familien könne sie sehr gut verstehen, sagt Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD). Sie ist nicht zur Demo gekommen. "Wenn die Eltern die Münchner Förderformel irgendwie retten wollten, müssten sie vor der Staatskanzlei oder dem Sozialministerium demonstrieren, denn die könnten die gesetzliche Grundlage schaffen", meint sie. "Wir als Stadt haben das Bestmögliche für die Eltern und Träger rausgeholt." Auf dem Odeonsplatz rufen die Eltern trotzdem laut "Buh", als ihr Name fällt.

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