"Wir haben erlebt, dass man Kliniken nicht schützen kann"

Es war noch keine halbe Stunde her, dass David S. am OEZ das Feuer eröffnet hatte, da waren bereits tausende Ärzte und Pfleger auf den Weg, um den Opfern der Amoknacht zu helfen.
Kurz zuvor waren die Kliniken über einen sogenannten Massenanfall von Verletzen (MAnV) informiert worden. Ein Alarm, der die Kliniken wissen lässt: Es ist mit Schlimmem zu rechnen.
Bayern führte dieses Protokoll zur Fußball-WM 2006 ein. Ausgelöst worden war es in München davor noch nie.
Nach der MAnV-Alarmierung benachrichtigen die Krankenhäuser umgehend über interne automatisierte Systeme ihre Mitarbeiter. So viele helfende Hände wie möglich werden gebraucht für den Terroranschlag, der zu diesem Zeitpunkt noch vermutet wird.
Die Alarmierung der Mitarbeiter funktionierte reibungslos. "Innerhalb von 40 Minuten hatten wir rund 80 Prozent des Personals vor Ort", schildert Dr. Stephan Prückner, Direktor des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement am Klinikum der Universität München.
150 Mitarbeiter in einer Stunde
In absoluten Zahlen heißt das: 400 zusätzliche Mitarbeiter strömten in die LMU-Kliniken. In den städtischen Kliniken machte man ähnliche Erfahrungen: "Innerhalb einer Stunde trafen 150 zusätzliche Mitarbeiter im Klinikum Bogenhausen ein", erzählt Dr. Christoph Dodt, Chefarzt des Notfallzentrums des Krankenhauses im Münchner Norden.
Insgesamt folgten über 800 Mitarbeiter der Alarmierung in den städtischen Kliniken.
Doch die vielen Verletzten blieben aus. Um drei Schwerverletzte kümmerten sich die LMU-Kliniken in dieser Nacht im Innenstadtbereich, in Bogenhausenwaren es zwei. "Medizinisch war das für uns gut zu schaffen", sagt Dodt und auch Kollege Prückner meint: "Letztendlich gab es weniger Menschen zu versorgen als an einem normalen Freitagabend."
Aus Angst ziehen sich Teile des Personals in den Keller zurück
Doch die Situation blieb angespannt, denn was noch kommen könnte, das wusste niemand. "Nach der Alarmierung gab es bis Mitternacht keine Informationen mehr", so Prückner. Dazu kam in den Innenstadtkliniken der LMU noch ein Problem: die Sicherheit.
Es gab Gerüchte über Schüsse auch am Sendlinger Tor. In der Nußbaumstraße zogen sich Teile des Personals aus Angst in den Keller zurück.
In der Haunerschen Kinderklinik eskalierte die Situation: In der Lindwurmstraße wurden Bewaffnete gesehen – Zivilpolizisten. Doch das wussten die verängstigen Menschen nicht. Eltern versuchten in Panik, sich mit ihren Kinder zu verstecken.
Ein Sondereinsatzkommando der Polizei sollte die Lage klären – die gezogenen Waffen verängstigen viele zusätzlich.
Um der Panik in den Innenstadtkliniken Herr zu werden, fragten die Verantwortlichen Polizeischutz an – erfolglos: "Es gab keine Kapazitäten, um uns zu schützen", so Prückner. "Ich will das nicht anprangern, aber man muss verstehen, was das mit dem Personal gemacht hat. Viele haben sich unsicher und bedroht gefühlt."
Belastender Einsatz
In Bogenhausen kam es nicht zu solchen Szenen. Dafür wurde man dort mit einer anderen unerwarteten Aufgabe konfrontiert: der psychologischen Betreuung der Rettungskräfte, die Verletzte in die Klinik brachten: "Für viele war der Einsatz sehr belastend", so Chefarzt Dodt, "da muss man sicher noch einiges nacharbeiten."
Denn der Alarmplan sieht zwar Seelsorger vor – das Ausmaß, in dem sie in dieser Nacht gebraucht wurden, überraschte die Verantwortlichen dennoch.
Lehren aus der Amoknacht haben beide Kliniken gezogen. Kommunikationsstrukturen wurden verbessert, Alarmpläne angepasst. Auch größere Informationslücken will man künftig vermeiden. "Die Kliniken sind dabei, sich zu organisieren", sagt Prückner, "damit wir in solchen Situationen einen Ansprechpartner haben." Für den Notfall-Experten bleibt ein bitterer Nachgeschmack: "Wir haben in dieser Nacht erlebt, dass man Kliniken nicht schützen kann. Das hat uns sehr zum Nachdenken gebracht."
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