Zum Jahrestag des OEZ-Amoklaufs: Die Lehren der Polizei nach dem Einsatz

Falschmeldungen, Verwechslungen, Funklöcher: Was gut lief, was schiefging aus Sicht der Münchner Polizei in der Amok-Nacht im Juli 2016 – und welche Konsequenzen sie daraus zieht.
Ralph Hub |
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22. Juli 2016: Schwerbewaffnete Polizisten sichern den Stachus, nachdem dort Menschen Schüsse gehört haben wollen. 73 Tatorte werden der Einsatzzentrale an diesem Abend gemeldet.
Sachelle Babbar/dpa 22. Juli 2016: Schwerbewaffnete Polizisten sichern den Stachus, nachdem dort Menschen Schüsse gehört haben wollen. 73 Tatorte werden der Einsatzzentrale an diesem Abend gemeldet.

Falschmeldungen, Verwechslungen, Funklöcher: Was gut lief, was schiefging aus Sicht der Münchner Polizei in der Amok-Nacht im Juli 2016 – und welche Konsequenzen sie daraus zieht. Teil zwei der AZ-Serie.

München - Bis Juni 2017 – also insgesamt elf Monate – hat die Münchner Polizei sämtliche Details zum Amoklauf im OEZ zusammengetragen. 14 themenbezogene Arbeitsbereiche wurden eingerichtet. Minutiös wurde der Ablauf des gesamten Abends rekonstruiert und auch analysiert.

Am Ende wurde alles in einem Bericht zusammengefasst, auf Dutzenden Seiten – die wohl umfangreichste und intensivste Nachbereitung eines Einsatzes in der Geschichte des Münchner Polizeipräsidiums.

Die Analyse

"Der Einsatz hat gut und reibungslos funktioniert, weil die Kollegen trotz einer Hochstress-Situation das umgesetzt haben, was sie in der Ausbildung und im Training gelernt hatten", sagt Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins. "Grundsätzlich sind wir mit dem Ablauf des Einsatzes zufrieden."

Was nicht heißt, dass nicht nachjustiert wird. Ein überarbeitetes Einsatzkonzept liegt vor. Die Neukonzeption soll künftige Einsätze schneller und reibungsloser ablaufen lassen. Sämtliche Erkenntnisse aus der Analyse des OEZ-Einsatzes sollen in die Aus- und Fortbildung von Polizisten einfließen. Davon profitieren werden Polizisten in ganz Bayern. Das Interesse ist enorm, auch in anderen Bundesländern.

Schneller vor Ort

Die ersten Kräfte, die an einem Einsatzort eintreffen, sind meist normale Streifenpolizisten. Die Beamten bilden sogenannte Kontakt-Teams – das heißt, sie sichern sich gegenseitig und gehen dann gemeinsam vor. "Das ist notwendig, wenn Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet sind", sagt da Gloria Martins.
Auf besonders ausgebildete und ausgerüstete Spezialkräfte wie das SEK kann in so einer Situation nicht mehr wie früher gewartet werden. Das sah man auch beim Amok-Alarm am Berufsschulzentrum am Ostbahnhof im Frühjahr: Ein ehemaliger Schüler war schwarz gekleidet im Sekretariat aufgetaucht und hatte so unbeabsichtigt Alarm ausgelöst. Ee habe sich nur für früheres Fehlverhalten entschuldigen wollen, sagte er.

Neue Taktik

Wie die Polizei im Detail bei mit dem OEZ-Einsatz vergleichbaren Lagen künftig vorgeht, verrät das Präsidium nicht. Man wolle Tätern keine Tipps geben. Deshalb werden alle taktischen Neuerungen geheim gehalten. Fest steht: Die Polizei unterscheidet nicht mehr zwischen Amok- und Terrorlagen. Das, so hat die Auswertung ergeben, habe sich nicht bewährt.

Die Sicherheitslage

Am 22. Juli herrschte auf Münchens Straßen über Stunden Angst. Am Stachus beispielsweise hieß es, es sei geschossen worden – was nicht stimmte. Im Hofbräuhaus sprangen Gäste aus dem Fenster, weil es das Gerücht gab, in der Nachbarschaft seien Schüsse gefallen. Aus dem gesamten Stadtgebiet gingen solche Meldungen ein – alles Falschmeldungen, wie sich später (meist noch) herausstellte.

Verängstigte Menschen, die Verdächtiges gehört oder beobachtet hatten, wählten die Notrufnummer 110. "Insgesamt wurden 73 Phantom-Tatorte der Einsatzzentrale gemeldet", sagt Marcus da Gloria Martins. Zudem verbreiteten sich blitzschnell Gerüchte über Dienste wie Twitter, Facebook und ähnliche Plattformen im Internet. "Das hatte eine geradezu infektiöse Wirkung, solche Lagen sind nur mehr schwer zu steuern", sagt der Polizeisprecher. "Es herrschte große Verunsicherung."

Die Identifizierbarkeit

Beim Amoklauf sorgten einige Polizisten für Verwirrung und Panik: Sie waren in Zivil mit Maschinenpistolen am OEZ unterwegs. Weil sie nicht als Polizisten zu erkennen waren, hielten Passanten sie (logischerweise) zunächst für Attentäter. Um Verwechslungen zu vermeiden, werden die Beamten künftig gelbe oder grüne Westen tragen, auf denen "Polizei" steht. Zudem gibt es Armbinden mit dieser Aufschrift.

Westen und Armbinden bergen allerdings die Gefahr, dass Polizisten von Tätern als Ziel ausgemacht und beschossen werden. "Das ist kalkuliertes Risiko, das ist Teil unserer Lebenswirklichkeit, damit müssen wir leben", betont Marcus da Gloria Martins. "Besser, als wenn Kollegen in Zivil von Bürgern für Angreifer gehalten werden."

Die Ausrüstung

Sie wird verbessert. Das betrifft einerseits die persönliche Schutzausrüstung mit schusssicheren Westen, andererseits aber auch die Ausrüstung der Streifenwagen mit Schutzwesten und Spezialhelmen.

Die Bewaffnung

Wird auch modernisiert. Die bisherige Standardwaffe von Heckler & Koch hat acht Schuss im Magazin. Der Amokschütze David Ali S. schoss mit einer Waffe vom Typ "Glock", einer Pistole mit 17 Patronen im Magazin. Bayerns Polizisten werden mit einem neuen Typ Pistole ausgerüstet. Das Innenministerium lässt derzeit verschiedene Modelle testen. Sie werden 2019 eingeführt. Kosten: 30 Millionen Euro.

Die Kommunikation

Der Sprechverkehr über Digitalfunk stieß an seine Grenzen: Es gab Verbindungsprobleme im OEZ, im Untergeschoss am Stachus, auch an anderen Orten. Die Beamten griffen zum eigenen Handy – was eigentlich nicht erlaubt ist und auch nur solange funktioniert, wie das Handynetz nicht zusammenbricht, wie es an manchen Wochenenden auf dem Oktoberfest bereits der Fall war.

Weniger Probleme beim Digitalfunk gäbe es, wären große Gebäude wie das OEZ, Parkhäuser oder unterirdische Bahnhöfe mit Verstärkeranlagen ausgerüstet. Das ist allerdings mit Kosten verbunden, für die die Eigentümer aufkommen müssten.

Messenger-Dienste

Während Normal-Bürger WhatsApp oder andere Messenger-Dienste nutzen, dürfen Polizisten das dienstlich nicht – unter anderem aus Datenschutzgründen. Die Polizei wird mit einem eigenen Dienst ausgestattet. Ein Test läuft bereits erfolgreich. Über das neue System können Informationen und Fotos ausgetauscht werden. "Das System ist abhörsicher und der strenge deutsche Datenschutz ist gewährleistet", versichert da Gloria Martins.

Der Nahverkehr

Am 22. Juli wurde der öffentliche Nahverkehr lahmgelegt. Tram, Busse, U- und S-Bahnen fuhren nicht mehr. Autobahnen waren gesperrt. Diese Maßnahmen könnte es auch künftig geben. In welchem Umfang ist abhängig von der jeweiligen Lage, heißt es. Ziel sei es, Tätern die Flucht zu erschweren.

Schutzräume

Dieses Problem ist auch nach elf Monaten noch weit von einer Lösung entfernt. In der Amok-Nacht waren viele verängstigte Menschen auf den Straßen unterwegs, kamen nicht mehr heim. Viele Münchner halfen, nahmen Flüchtende in ihren Wohnungen auf.

Die Polizei hat erwogen, künftig Schutzräume zu benennen, beispielsweise in Schulen. Schwierig ist aber, alle Schutzsuchenden vorher zu kontrollieren und die Räume vor Angriffen zu sichern.

Psychologische Hilfe

Die Betreuung von Angehörigen oder traumatisierten Opfern wird intensiviert und verbessert. Die meisten Opfer des Amoklaufs waren Muslime. Das stellt Seelsorger und Psychologen was kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Belange betrifft, vor eine ganz besondere Aufgabe.

Hier lesen Sie den ersten Teil der Serie: Ein Protokoll der Amoknacht

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