Wiesn-Attentat: Was weiß die Krankenschwester?

35 Jahre nach dem Wiesn-Attentat meldet sich bei BR-Journalist Ulrich Chaussy eine neue Zeugin. Als Krankenschwester versorgt sie 1980 einen Unbekannten, dem die Hand abgesprengt wurde.
von  Von Adrian Prechtel und Natalie Kettinger
Der Tatort: Am Haupteingang zur Wiesn sterben am 26. September 1980 zwölf Festbesucher und der Attentäter. Am nächsten Tag läuft der Festbetrieb weiter. Zur Trauerfeier am 30. September werden die Zelte jedoch geschlossen.
Der Tatort: Am Haupteingang zur Wiesn sterben am 26. September 1980 zwölf Festbesucher und der Attentäter. Am nächsten Tag läuft der Festbetrieb weiter. Zur Trauerfeier am 30. September werden die Zelte jedoch geschlossen. © dpa

Am Abend des 8. Januar erreicht Ulrich Chaussy eine E-Mail aus Leipzig. Ein Städtebaustudent hat sie geschrieben: Er komme gerade vom Weihnachtsbesuch bei seiner Mutter in Hannover – und eine Geschichte gehe ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Zufällig hatte sich der 23-Jährige Daniel Harrichs Film „Der blinde Fleck“ über das Oktoberfest-Attentat angeschaut und am Tag vor Heiligabend seiner Mutter davon erzählt. Da erinnerte sich die gelernte Krankenschwester an einen mysteriösen Patienten, den sie als junge Frau behandelt hat. Einen Patienten, der nach dem Anschlag mit zerfetztem Arm in die Klinik eingeliefert worden war. Einen Patienten, dem eine Hand fehlte.

Ist in Hannover der Besitzer der abgerissenen Hand aufgetaucht, die in München am Tatort zurückgeblieben war? Ein möglicher Mittäter?

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Diese Aussage könnte das offizielle Ermittlungsergebnis vollends erschüttern: Darin hieß es, der blutige Anschlag mit 13 Toten und mehr als 200 Verletzten sei das alleinige Werk des Rechtsextremisten Gundolf Köhler.

„Die Einzeltäter-Theorie ist endgültig Geschichte“, sagt Ulrich Chaussy. Ein Moment, auf den der Radiojournalist seit 35 Jahren hinarbeitet.

September 1980.

Charlotte Wieland (Name geändert) ist 20 Jahre alt und hat vor wenigen Wochen ihre Schwesternprüfung abgelegt. Sie arbeitet in einem Hannoveraner Krankenhaus, als ein junger Mann auf ihre Station eingeliefert wird. Seine Hand fehlt, der Unterarm ist zerschmettert. Der Arm muss oberhalb des Ellenbogens amputiert werden. Den Ärzten und dem Pflegepersonal gibt er keine Auskunft über die Ursache seiner Verletzung.

Trotzdem ist der höchstens 20-Jährige blendend gelaunt. Das befremdet die gleichaltrige Krankenschwester so sehr, dass sie ihn nie wieder vergisst. „Ich bin in dieses Zimmer gekommen. Da saß er aufrecht im Bett und hatte ein Strahlen im Gesicht. Ich war völlig irritiert und geschockt“, erzählt sie.

Nach einer Woche ist der Unbekannte plötzlich aus der Klinik verschwunden – noch bevor die Fäden am Armstumpf gezogen werden können.

„Die Zeugin macht einen glaubwürdigen Eindruck“, sagt Ulrich Chaussy. Auch dass der mysteriöse Mann von Helfern bis nach Niedersachsen gefahren wurde, passt seiner Meinung nach ins Bild: „Den Schwerverletzten in München wurden ja viele Fragen gestellt. Vor allem denjenigen, die nahe an der Detonation dran waren.“ Ein überlebender Mittäter wäre dort schnell aufgeflogen.

Charlotte Wieland ist bereits die zweite Zeugin, die sich gemeldet hat, nachdem Harrichs Polit-Drama über Chaussys unermüdliche Wahrheitssuche 2014 in die Kinos kam – und mehr als dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Anschlag wieder Bewegung in den Fall brachte.

Denn die bayerische Staatsregierung wollte 1980 kurz vor der Bundestagswahl mit Franz-Josef Strauß als Kanzlerkandidaten von einer aktiven rechtsradikalen Szene im Freistaat ablenken. Deshalb galt offiziell – gegen viele Indizien und Hinweise – die Theorie vom Einzeltäter Gundolf Köhler, einem frustrierten Sonderling ohne Hintermänner, obwohl gute Kontakte zur Wehrsportgruppe Hofmann bestanden.

Im November 1982 erklärte der damalige Generalbundesanwalt Kurt Rebmann die Ermittlungen der Soko „Theresienwiese“ für beendet und den Fall als „abgeschlossen“.

Seitdem bemühte sich Opferanwalt Werner Dietrich vergeblich um eine Wiederaufnahme – bis Harrichs auf Fakten aufbauendes Kino-Drama den Fokus der Öffentlichkeit wieder auf das Oktoberfest-Attentat lenkte und die große mediale Aufmerksamkeit schließlich die Wende brachte. Erst versprach der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, nach einer Film-Vorführung im Landtag sichtlich erschüttert, Akten freizugeben, von denen viele als vernichtet galten.

Dann meldete sich eine Theologin aus München bei Anwalt Dietrich. Sie habe Anfang der 80er Sprachkurse in einem Aussiedlerheim gegeben, erzählte sie – und am Tag, nachdem die Rohrbombe auf der Wiesn explodiert war, im Spind eines bekennenden Rechtsextremisten Flugblätter mit einem Nachruf auf Gundolf Köhler entdeckt. Zu einem Zeitpunkt, als der Name des Attentäters in der Öffentlichkeit noch gar nicht bekannt war.

Direkt nach dem Attentat hatte die Polizei diese Aussage nicht ernst genommen – erst am 11. Dezember 2014 ordnete Generalbundesanwalt Harald Range die Wiederaufnahme der Ermittlungen an. Zuständig ist Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten, ein Mann, der Beobachtern des NSU-Prozesses vor dem Oberlandesgericht bekannt ist: Der 44-Jährige ist im Verfahren gegen Beate Zschäpe Sitzungsvertreter der Bundesanwaltschaft.

Vielleicht gelingt es ihm, das Rätsel zu lösen, das Chaussy und Harrich mit den Schilderungen der niedersächsischen Krankenschwester in Verbindung bringen: das Rätsel um die verschwundene Hand.

Denn am Tatort war nach dem Anschlag eine abgesprengte Hand gefunden worden, die niemandem zugeordnet werden konnte. Zwar hatte die Detonation auch Gundolf Köhler beide Arme in Fetzen gerissen. Seine Blutgruppe stimmte aber nicht mit der überein, die bei der verstümmelten Extremität nachgewiesen wurde.

Dafür fand sich ein Abdruck der Hand auf einem Studienordner Köhlers mit der Aufschrift „Wintersemester“. Wem also gehörte die Hand? Und wo ist sie geblieben?

In den Ermittlungsakten taucht sie laut Ulrich Chaussy in der Woche nach dem Blutbad zum letzten Mal auf: In einem Schreiben des Leiters der Sonderkommission „Theresienwiese“ beim Bayerischen Landeskriminalamt (LKA) an das Institut für Gerichtsmedizin. Der Ermittler teilt den Pathologen darin mit, dass die Hand serologisch untersucht werden müsse.

Dann verliert sich die Spur. Das LKA will sämtliche Asservate Anfang der 1980er an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe weitergeleitet haben. Nach Abschluss der Ermittlungen wurden dort 511 Beweismittel vernichtet.

Lange hieß es, auch die ominöse Hand sei im Abfallcontainer der Behörde gelandet. Doch dann teilte die Bundesanwaltschaft Ulrich Chaussy auf Anfrage mit: „Das von Ihnen benannte Handfragment befand sich nicht unter den Asservaten.“ Und wurde demnach auch nicht in Karlsruhe vernichtet. „Aber die Hand ist weg“, sagt Ulrich Chaussy. „Und merkwürdigerweise auch alle Unterlagen über die Untersuchungen in der Gerichtsmedizin. Das ist besonders merkwürdig. Denn normalerweise gehen Gutachten im Original an den Auftraggeber – und bleiben in Kopie im Institut.“

Wurden die Dokumente vernichtet, um die Einzeltäter-Theorie zu erhärten? Gehörten Charlotte Wielands unheimlicher Patient und die Männer, die ihn ins Krankenhaus brachten, zum Netzwerk des Bombenlegers? „Köhler muss Helfer gehabt haben. Aber damals hat man genauso weggeschaut wie später bei den NSU-Morden“, sagt Daniel Harrich. Und Ulrich Chaussy ergänzt: Ein Sprengstoffexperte habe ihm erklärt, dass es durchaus möglich sei, dass ein Mittäter die Detonation anders als Köhler überlebt hat – wenn ihn, geschützt durch die Körper anderer Menschen, nicht die volle Wucht der Explosion erreichte.

All das passt auch zu einem anonymen Anrufer, der sich aus Niedersachsen 1983 bei Anwalt Dietrich meldete: „Ich selbst wusste damals noch nichts von einem Mann mit einem abgerissenen Unterarm und dass eine Hand bei den Beweismitteln lagerte“, erzählt der Jurist. „Sind Sie der Opferanwalt?“, fragte der Mann. Er klang gehetzt. „Dann sagte er, dass es da einen jungen Mann gegeben habe. Der sei ohne Unterarm in Hannover ins Krankenhaus gebracht worden und nach kurzer Zeit wieder verschwunden“, sagt Dietrich. „Der Anrufer muss ein Mitwisser gewesen sein, weil er den Zusammenhang von einem Mann mit abgerissener Hand und dem Oktoberfestattentat hergestellt hat, als offiziell noch niemand davon wusste.“

Daniel Harrich hofft jetzt auf eine „Aktenzeichen XY“-Situation, wenn heute sein „Blinder Fleck“ zusammen mit seiner aktuellen Dokumentation mit allen neuen Erkenntnissen im Fernsehen gezeigt wird. „Da werden sich noch Leute melden. Und auch in der extrem rechten Szene ist Unruhe. Vielleicht wollen ja noch manche ihr Gewissen erleichtern.“

Ulrich Chaussy hofft vor allem auf Hinweise aus dem Umfeld des Hannoveraner Krankenhauses: „Wer hat mit dem Mann ohne Hand im Zimmer gelegen? Wer hat ihn operiert? Es ist an der Zeit zu reden.“

Hinweise bitte an: oktoberfest-attentat@br.de

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