Weihnachten 1946: Sie aßen die Taube vom Dach
aMünchen - Die Münchner Lebensmittelläden waren leer im Dezember 1946, Weihnachtsgeschäft und Festfreude zusammengebrochen.
Was von der "Hauptstadt der Bewegung" verblieben war, wurde heimgesucht von einer Hungersnot wie seit den Napoleonischen Kriegen nicht mehr. Und mit ihr kamen noch andere Apokalyptische Reiter.
"Hunger, Verkehrssorgen, fehlende warme Kleidung, Kohlemangel, Schwarzhandel, Stromsperre, Wohnelend und wachsende Kriminalität - das sind die Probleme der deutschen Ruinengroßstädte 1946", schrieb Chefredakteur Werner Friedmann am 17. Dezember in der "Süddeutschen Zeitung", die ihre Redaktion in den warmen Kesselraum verlegt hatte.

München ein "lebendiger Trümmerhaufen"
Mehr als 975.000 Menschen drängten sich wieder in dem "lebendigen Trümmerhaufen", als den der Zweite Bürgermeister Thomas Wimmer seine Stadt wehmütig bezeichnete, bevor er mit der Aktion "Rama dama" auch selbst zur Schaufel griff. Nicht weniger als 62.000 Flüchtlinge und Vertriebene waren laut Volkszählung von Ende Oktober dazugekommen.
Buchstäblich über Nacht war der Hunger ausgebrochen. Genauer: am 1. Oktober 1946. Von diesem Tag an konnten die Arbeiter im Hafen der amerikanisch besetzten Stadt Bremen keine Nahrungsmittel mehr von den Schiffen entladen, denn in den USA streikten die Seeleute. Die Transporte waren dringend benötigte Hilfsgüter für die deutsche Bevölkerung.

Sogar das Grundnahrungsmittel Brot fehlt
Diese Zusammenhänge blieben den Münchnern allerdings nicht unbekannt: Am selben 1. Oktober wurden die eigentlich Schuldigen an der aktuellen Not in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher verurteilt.
Plötzlich fehlt sogar das Grundnahrungsmittel: Brot. Die Müller bekamen kein Mehl mehr. Dabei wurden auf dem Papier, auf den Lebensmittelkarten, noch 1.550 Kalorien pro Tag "verteilt" - halb so viel wie vor dem Krieg verbraucht wurde.
Wie das konkret aussieht, stellte ein Geschäft in der Kaufingerstraße aus: 21,4 Gramm Fleisch, 7,1 Gramm Fett, 2,2 Gramm Käse, 214 Gramm Brot, 429 Gramm Kartoffeln, 21,4 Gramm Nährmittel, 17,8 Gramm Zucker, 4,5 Gramm Kaffee-Ersatz und ein Zehntel Liter Milch.

Schwarzmarkt in der Möhlstraße in Bogenhausen
Aber auch diese "Mengen" waren nicht überall oder erst nach langem Schlangestehen zu bekommen. Um den Hunger zu stillen, behalfen sich viele Bürger aller Schichten auf dem Schwarzen Markt, etwa in den provisorischen Buden-Städten am Sendlinger-Tor-Platz oder in der eher berüchtigten Möhlstraße in Bogenhausen. Sofern man das passende Geld oder Tauschobjekt hatte und keine Angst, betrogen zu werden oder in eine Polizei-Razzia zu geraten.
Glücklich war, wer durch eine Ami-Connection ein Stück Erdnussbutter oder Maisgries ergatterte. Gelegentlich gab es "Sonderzuteilungen" auch für Normalverbraucher. So kündigte der amtliche "Münchner Stadtanzeiger" am 4. Oktober an, dass in der laufenden Versorgungsperiode "Salzheringe in der Lacke zur Verteilung gelangen" und in der Freibank notgeschlachtetes Fleisch auf halbe Marken abgegeben werde.
Mit Grausen erinnert sich der Autor, wie er als hungernder Halbwüchsiger eine Taube auf dem elterlichen Balkon gefangen hat, die seine Mutter zubereitete. Aus dünner Buttermilch und Körnern verstand sie einen sättigenden Sterz zu kochen.
Viele Ausgebombte und Evakuierte kommen zurück
Dass es die Bevölkerung Münchens besonders hart traf, lag auch daran, dass die Ernte in Bayern schlecht ausgefallen war, dass außerdem die Transportmöglichkeiten miserabel waren und 2.000 Waggons Kartoffeln ausblieben.
Vor allem aber hungern die Münchner, weil viele Ausgebombte und Evakuierte zurückgekommen waren und ebenso viele Flüchtlinge einquartiert wurden. Bei Kriegsende waren nur an 440.000 Zivilpersonen die lebenswichtigen "Marken" zugeteilt worden.
Markenfälscherzentralen werden ausgehoben
Dass ein großer Teil der Überlebenden aus den 47 Münchner Zwangsarbeitslagern und den 39 KZ-Außenlagern von Dachau als "Displaced Persons" in der Stadt verblieben und viele von ihnen "organisierte" Waren in schwarze Kanäle abzweigen konnten, verengt den Markt noch mehr. Das wiederum ließ manche Münchner an der neuen Demokratie zweifeln und andere handgreiflich werden.
Am 23. Oktober wurden mehrere Markenfälscherzentralen ausgehoben. "Volksschädlinge" nannte Kriminaldirektor Grasmüller, in den Nazi-Sprachschatz zurückgreifend, die Festgenommenen. Deren Machenschaften seien geeignet, die Ernährungswirtschaft aus den Angeln zu heben.
Anton Weiß: "Meine größte Sorge ist jetzt das tägliche Brot"
Raubüberfälle häuften sich in diesem Herbst 1946. Einmal erbeuteten vier Unbekannte 3.000 Lebensmittelkarten und 30 Bezugsscheine. Immer öfter wurde Polizeischutz für die Verteilungsstellen angefordert.
Das gewohnte "Hamstern", das schwierige Fahrten "aufs Land" und viel Geduld erforderte, lohnte kaum noch. Die Bauern gaben immer weniger, höchstens noch löffelweise. Sie waren ja selbst verunsichert, ihre Äcker waren ausgelaugt, sie horten lieber. Man müsse schon einen kleinen Teppich als Gegenwert vor die Hoftür legen, erzählten sich die Hausfrauen in der Stadt.
Wie die ausgemergelte Bevölkerung den bevorstehenden Winter überleben sollte, war auch den politisch Verantwortlichen schleierhaft. "Meine größte Sorge ist jetzt das tägliche Brot", antwortet Ernährungs- und Wirtschaftsreferent Anton Weiß einem Reporter. Nicht selten sehe er Elend und Verzweiflung in den Läden.
Anfang Januar 1947: Minus 19 Grad in München
Der Oktober 1946 endete denn auch mit einer schrecklichen Bilanz: 31 Münchner - in den Monaten zuvor waren es durchschnittlich zehn - hatten sich das Leben genommen. Wirtschaftliche Not wurde fast in jedem Fall als Todesursache notiert. Einer hinterließ die Botschaft: "Die Menschheit hat sich völlig verrannt, sie wird keinen Ausweg mehr finden."
Bis zum Advent war die Menge der tatsächlich zugeteilten Kalorien auf 900 gesunken. Das tägliche Brot war jetzt so rar geworden, dass eine Zeitung meldete, im Müll seien keinerlei Lebensmittelreste mehr zu finden. Trotzdem müssten die Ratten bekämpft werden. Erste Anzeichen epidemischer Krankheiten und vor allem eine Häufung der Geschlechtskrankheiten wurden gemeldet.
Und dann kam die Kälte. Minus 19 Grad wurden Anfang Januar 1947 am Stadtrand gemessen, nur fünf Mal war es im 20. Jahrhundert dermaßen kalt in München. Gaskessel froren ein, Pumpen fielen aus, das Wasser kam in vielen Häusern nicht mehr in die oberen Stockwerke. Nun blieben auch noch Kohle und Koks aus. Und Kartoffeln aus Norddeutschland. Im Ebersberger Forst wurde Brennholz geschlagen. Landwirtschaftsminister Josef Baumgartner warnte vor dem "Raubbau am Wald" und stöhnte: "Wohin sind wir gekommen?"
Kanadischer UN-Botschafter: "Ein Jahr der Angst"
Was für ein Weihnachten stand da bevor? Mitte Dezember bekamen 17.000 Münchner Schulkinder wieder etwas Milch, Haferbrei, Semmeln oder Keks. Zuvor war festgestellt worden, dass 85 Prozent der Schulkinder unterernährt und bei 20 Prozent bleibende Schäden zu befürchten seien. Viele erhielten ihren Unterricht in Wirtshäusern. Viele waren zu schwach, um am Turnen teilnehmen zu können, teilte das Stadtschulamt mit. Von 100 lebendgeborenen Säuglingen starben neun, meist an "Darmkatarrh".
Dank einer Spende aus Irland gab es für Kinder und Jugendliche eine "Weihnachtssonderzuteilung" von 250 Gramm Zucker, dazu Trockenmilch. Wohlfahrtsverbände konnten wenigstens für die Ärmsten der Armen eine kleine Feier vorbereiten. Ansonsten fehlte es an allem. Auch an Kerzen. Mit dem von den Amerikanern gespendetem Paraffin können nur Flüchtlingslager, Krankenhäuser und Lazarette versorgt werden. Zu einem "Haus der Hungrigen" drängen Kranke und Flüchtlinge aus der russischen Zone.
Die Probleme waren pandemisch. Der kanadische UN-Botschafter sprach von einem "Jahr der Angst". Und 1947, das neue Jahr, schien nicht besser zu werden. In München begann es mit einer verschärften Stromsperre. Nur noch zwischen 11.30 Uhr und 13 Uhr konnten die Hausfrauen kochen. In Molkereien, Metzgereien und vielen anderen Betrieben fielen die Maschinen aus. Folglich noch weniger Milch, noch weniger frische Lebensmittel. Dafür wurde die tägliche Brotration erhöht - um sechs Gramm. Die Vorräte, hieß es, sollen aber nur noch für einige Monate reichen.
Der Beitrag verwendet Texte aus dem "Münchner Katastrophenbuch” (Schiermeier Verlag) und "Münchner Meilensteine” (AZ-Verlag) von Karl Stankiewitz,
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