Story

Weder Eigentümer noch Mieter: Genossenschaftlich wohnen in München

Im Genossenschaftshaus San Riemo lebt man ein bisserl anders. Eine Bewohnerfamilie hat der AZ die Tür geöffnet – und erzählt, warum es sich hier besonders gut wohnt.
von  Eva von Steinburg
Mascha Steyer (37, r.) und ihr Mann Matteo Carrara (40) sind mit ihren Kindern Maxim (8, r.) und Dario (6, l.) in eine Genossenschaftswohnung gezogen.
Mascha Steyer (37, r.) und ihr Mann Matteo Carrara (40) sind mit ihren Kindern Maxim (8, r.) und Dario (6, l.) in eine Genossenschaftswohnung gezogen. © Daniel von Loeper

München - San Riemo. "Das klingt nach Sehnsuchtsort, nach Dolce Vita", sagt Mascha Steyer. San Riemo – so heißt das preisgekrönte Genossenschaftshaus in Riem, in dem die Wirtschaftsingenieurin (37) mit ihrem Mann Matteo Carrara (40) und den Söhnen Dario (6) und Maxim (8) lebt.

Die vier, Mitglieder in der Kooperative Großstadt, sind seit über einem Jahr im fünften Stock des kühl-poppigen Gebäudes daheim. "Wir sind Pioniere", findet Mascha Steyer. Bei dem Bau spüre sie "den Mut zum Experiment": "Die Architekten waren ganz jung. Unsere Genossenschaft hat viel gewagt."

Starker erster Eindruck

Weißes Wellblech, kühle Farb-Akzente, ein durchlaufender Wintergarten: Inmitten durchschnittlicher Neubauten sticht das San Riemo heraus. Wenn sich an der Elisabeth-Mann-Borgese-Straße 24 in der Messestadt die Eingangstür öffnet, steht der Besucher direkt in einer "Gemeinschaftszone".

Der erste Eindruck ist stark: eine 180 Quadratmeter große Lobby, sehr hoch, sehr hell. Die Halle vereinigt Gemeinschaftsküche, Werkstatt und eine Wand mit riesigen Industrieregalen. Am Boden stehen Waschmaschinen und Trockner.

Vieles wird im Haus geteilt: Radl, Werkzeug und auch Autos

Vater Matteo Carrara entlädt gerade frischgewaschene Wäsche in einen Korb. Danach zieht er die postgelb leuchtenden Mega-Vorhänge vor der Regalwand ein Stück vor die Geräte – eine überraschend coole Lösung. In den 26 Genossenschafts-Wohnungen sind Münchner daheim, die nachhaltig und partizipativ leben möchten.

Im Gemeinschaftsraum stehen die Waschmaschinen.
Im Gemeinschaftsraum stehen die Waschmaschinen. © Daniel von Loeper

Vieles wird geteilt: die Lastenräder im Keller, die Werkzeuge, mal das Abholen der Kinder vom Kindergarten – und ein Gäste-Appartement im Haus, für Besuch. In der Garage ist ein Car-Sharing-Anbieter. "Es wird uns ermöglicht, ohne Auto zu leben. Das ist super. Von 26 Parteien haben nur vier Autos", weiß Matteo Carrara.

Die 110-Quadratmeter Wohnung der Familie im obersten Stock hat Loftcharakter. "Der Grundriss ist archaisch", erklärt die Mutter. Der Herd liegt in der Mitte der Wohnung. Mascha Steyer gefällt dieses Prinzip: "Es ist wirklich schön, man ist nicht im Kochloch", meint sie. Auch auf Partys sei das praktisch und kommunikativ.

Eine Küche auf der Dachterrasse

Zwei Fensterbänder sorgen für lichtdurchflutete Zimmer. Die Zimmerdecke ist mit 2,70 Metern ungewöhnlich hoch. Mascha Steyer: "Weil jeder Zentimeter Höhe beim Bau kostet, wird hier sonst oft als erstes gespart." Aus dem Kinderzimmerfenster sieht man auf begrünte Dächer. Der eigene Dachgarten mit Draußenküche und Grill bietet einen "phänomenalen Alpenblick", so die Familie.

Die Dachterrasse wird von allen Bewohnern genutzt.
Die Dachterrasse wird von allen Bewohnern genutzt. © Daniel von Loeper

Als Zusatzraum gibt es die "Filiale" – 60 Quadratmeter, die mit den zwei anderen Wohnungen im Stock geteilt werden. Die Brüder spielen hier gerne Kicker. Die Filiale dient jedoch auch als Homeoffice oder Stammtisch für zehn Kindergarten-Mamis. Zu dem Extra an Platz, das es in einem konventionellen Mietshaus nie gäbe, sagt Mascha Steyer: "Das ist Luxus. Das ist gigantisch."

Im großen Schrank sind Staubsauger und Bügelbrett für die Etage verstaut. In den Schubläden: Bohrmaschine und viele Rollen Klebeband. Oft haben neun Nachbarn hier zusammen gegessen: Käse-Fondue, Italienisch oder Salate von Ottolenghi. "Wir halten gut zusammen", erklärt Mascha Steyer, obwohl die Leute im Haus doch extrem verschiedene Typen seien.

Ein innovatives Schuhregal.
Ein innovatives Schuhregal. © Daniel von Loeper

Ein Kinderkino ist in Planung

Auf dem Dachgarten fangen zwei Tonnen das Regenwasser auf. Rucola, Salbei und Gurken wachsen in den Beeten. Die San Riemo-Bewohner haben zusammengelegt – für einen Strandkorb. Beamer und Leinwand werden als Nächstes angeschafft: Für Kinderkino – denn es leben 30 Kinder im Haus.

Familie Steyer-Carrara hat vor drei Jahren 1.000 Euro pro Quadratmeter in ihre Genossenschaftsanteile investiert, auch weil der Vater "Lust auf soziale Kontakte hatte". Und das klappt, er konnte schon viele Kontakte knüpfen. "Mir gefällt das Dörfliche. Man hilft sich", meint er.

Seine Frau ergänzt: "Das Haus ist vernetzt über eine eigene App und Chatgruppen. Wir kennen jeden Namen und jedes Kind. Wir wissen, wer was beruflich macht – und wer gerade im Urlaub ist."

Von den Wohnungen schaut man auf begrünte Nachbardächer.
Von den Wohnungen schaut man auf begrünte Nachbardächer. © Daniel von Loeper

Die Wohnung kann wachsen und schrumpfen

Zur architektonischen Finesse: Acht Wohnungen im San Riemo sind nach dem Nucleus-Prinzip gebaut – aus etwa 15 Quadratmeter großen Waben. Um diese Zimmer kann eine Wohnung wachsen oder schrumpfen. Weitere Besonderheiten: Die Treppenhäuser setzen witzige Farbakzente. Sie leuchten babyblau und in "Pornopink", so Steyers Wortschöpfung. Für abendliche Treffen hat die Lobby einen Bierkühlschrank, den Bierwart Matteo Carrara immer wieder auffüllt.

Für die Familie ist das lockere Zusammenleben im San Riemo schon "normal". "Es ist nichts Exotisches. Oder doch? Vielleicht merken wir es nicht mehr", sinniert die Mutter. Marreo Carrara sagt: "Im Reihenhaus ist jeder nebeneinander, ganz für sich mit seiner Ecke. Jeder hat einen eigenen Rasenmäher. Das wäre nichts für mich."

Seine Frau ergänzt: "Man besitzt so weniger. Beim Einzug haben wir Bügelbrett und Staubsauger verschenkt. Sogar den Mixer benutzt der fünfte Stock zusammen." Neues denken, Konsumausgaben vermeiden, Ressourcen schonen – das wollen hier alle: Genossenschaftsbauten sind im Kommen. "Wir können nicht rausgekündigt werden. Außerdem finden wir es gut, dass sich niemand an uns bereichert ", sagt Mascha Steyer.

Der Traum vom Sehnsuchtsort San Riemo hat sich erfüllt, findet die Familie: "Es fühlt sich an wie Landleben mit U-Bahnanschluss. Wir haben das Soziale vom Dorf und das Praktische von der Stadt."

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