Versäumte Vorsorge: Wegen Corona gehen weniger zur Krebsvorsorge

Wegen Corona sind viele Menschen nicht zur Krebsvorsorge gegangen. Die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, ist damit für viele gestiegen. Der Einbruch bei den Voruntersuchungen ist groß: 85 Prozent. An manchen Tagen fragt sich die Patientin: "Warum ich?".
Marie Heßlinger |
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Susanne M., die in Wirklichkeit anders heißt, lässt sich von Oberarzt Enrico De Toni beraten. Heute sagt sie, dass sie viel zu spät damit begonnen hat.
Susanne M., die in Wirklichkeit anders heißt, lässt sich von Oberarzt Enrico De Toni beraten. Heute sagt sie, dass sie viel zu spät damit begonnen hat. © Daniel von Loeper

München - "Was wäre, wenn?", diese Frage hat sich Susanne M. (Name geändert) oft gestellt, nachdem sie die Diagnose Krebs bekommen hat. "Wenn ich vor zwei Jahren zum Arzt gegangen wäre, dann hätte man einen kleinen Polypen gefunden und ich wäre jetzt gesund", sagt sie. Sie ist aber nicht vor zwei Jahren zum Arzt gegangen. Sondern im Januar.

Das war, als es fast zu spät war. Susanne M. hatte Blut im Stuhlgang. Schon mehr als ein Jahr lang hatte sie davor Durchfall gehabt. Sie hatte gedacht, das käme noch von der Chemotherapie vor zwei Jahren, als sie Brustkrebs hatte. Aber es lag nicht an der Chemotherapie. Es war ein neuer Krebs. Diesmal Darmkrebs.

Darmkrebs gehört zu den drei häufigsten Krebserkrankungen

Darmkrebs gehört laut Krebsgesellschaft zu den drei häufigsten Krebserkrankungen bei Frauen und Männern in Deutschland, und tritt überwiegend ab dem 50. Lebensjahr auf. Obwohl Krankenkassen eine Vorsorgeuntersuchung gegen Darmkrebs empfehlen, schrecken viele Menschen vor einer Koloskopie - einer Darmspiegelung - zurück.

"Die Vorstellung, man liegt da entblößt und kriegt einen Schlauch in den Hintern geschoben", sagt Susanne M., "ich glaube, dass das viele davon abhält, zum Arzt zu gehen."

Seit Susanne M. selbst Darmkrebs hat, schlägt sie ihren Bekannten und Freunden dennoch ständig vor, selbst zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen. Sie will andere vor dem bewahren, was sie nun selbst durchstehen muss. Doch tatsächlich hat Corona dazu beigetragen, dass noch weniger Menschen zu Vorsorgeuntersuchungen gehen.

Bis zu 85 Prozent weniger Darmspiegelungen als vor Corona

Am Uni-Klinikum in Großhadern, wo Susanne M. nun in Behandlung ist, sind im Jahr 2020 15 Prozent weniger Menschen zur Darmspiegelung gegangen als im Vor-Coronajahr 2019. Und das ist noch ein relativ geringer Rückgang im Vergleich zu Kliniken oder Praxen mit Schwerpunkt auf Vorsorge-Koloskopie.

In nicht-universitären Zentren sind laut einer bayernweiten Studie während Corona sogar 85 Prozent weniger Darmspiegelungen erfolgt als zuvor. Mit verheerenden Konsequenzen: "Wenn man Beschwerden hat, ist es oft schon zu spät", sagt Oberarzt Enrico De Toni.

De Toni leitet die Einheit für gastrointestinale Tumore an der zweiten medizinischen Klinik in Großhadern. Darmkrebs entwickle sich aus Polypen, die man zunächst nicht bemerke, sagt er. Bei einer Vorsorge-Darmspiegelung würden sie einfach entfernt. Wartet man allerdings zu lange, könnten sich auch bösartige Tumore entwickeln.

Der Arzt Enrico De Toni rät dringend dazu, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen. Was zu spät erkannt wird, wird schnell gefährlich.
Der Arzt Enrico De Toni rät dringend dazu, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen. Was zu spät erkannt wird, wird schnell gefährlich. © Daniel von Loeper

AOK schlägt Alarm

"Ein Darmpolyp zu erkennen und abzutragen, ist, wie eine tickende Bombe rechtzeitig noch zu entschärfen", sagt de Toni. Die AOK hat deshalb bereits Alarm geschlagen.

Wegen und während Corona seien viele Menschen in ganz Deutschland nicht zu Vorsorge-Untersuchungen gegangen, heißt es in einer Pressemitteilung der Krankenkasse. In der AOK-Studie ist der Rückgang von Darmspiegelungen vergleichsweise noch gering.

Besonders hoch war dort der Rückgang von Vorsorge-Untersuchungen beim Hautarzt - um 20 Prozent. Auch Brust- und Prostata-Screenings hätten 2020 gegenüber dem Vorjahr um jeweils rund acht Prozent abgenommen. Grund dafür ist wohl die Sorge, sich in Arztpraxen und Kliniken mit Corona zu infizieren.

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Krebs-Patientin: "Scheiße, hätte ich doch früher danach gucken lassen"

Enrico De Toni wirbt eindringlich, zur Vorsorge-Untersuchung zu gehen. "Wir bemühen uns um viele Sachen, die angeblich für unsere Gesundheit gut sind, und übersehen eine der Untersuchungen, die nachweislich unser Leben - unsere Lebenserwartung - dramatisch verändern kann."

Susanne M.s erster Gedanke, als sie die Krebsdiagnose bekam, war: "Scheiße, hätte ich doch früher danach gucken lassen", sagt die 59-Jährige.

Es ist Frühlingsanfang, als sie das sagt. Ein warmer, sonniger Nachmittag. Doch Susanne M. ist erschöpft. Sie hat vor dem Gespräch eine Bestrahlung bekommen. Seit einer Woche geht das so, täglich.

Zudem bekommt sie eine Chemotherapie in Tablettenform. Susanne M. sagt: "Ich rechne mit einem Jahr Krankenausfall."

Und hier könnte die Vorsorgeuntersuchung stattfinden: Enrico De Toni zeigt mit seiner Kollegin Sabine Blümel Krankenbett und Geräte.
Und hier könnte die Vorsorgeuntersuchung stattfinden: Enrico De Toni zeigt mit seiner Kollegin Sabine Blümel Krankenbett und Geräte. © Daniel von Loeper

"Warum ich?", "Warum schon wieder?"

An diesem Tag klingt ihre Stimme fest und sicher. Es ist ein "Nicht-Heultag", wie sie sagt. Doch sie hat auch andere Tage. Dann kann sie nicht anders, als sich zu fragen: "Warum ich?", "Warum schon wieder?" Doch eine gute Sache sieht sie auch: "Ich habe insofern Glück, dass ich keine Metastasen habe."

Laut Oberarzt Enrico De Toni liegt die Wahrscheinlichkeit, dass man den Darmkrebs in den nächsten fünf Jahren überlebt bei 90 Prozent, wenn die Krankheit sich im Frühstadium befindet und man keine fern gestreuten Metastasen hat.

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