Türken in der Landeshauptstadt: Integriert im schönen Münih?
Sechs Mal zog der bayerische Kurfürst Max Emanuel mit alliierten Truppen den Balkan hinunter gegen die Türken. Die fürchteten und bewunderten ihn, den "Marvi Kral", den "Blauen König". Er befreite Wien und Belgrad von der osmanischen Herrschaft. In der letzten Schlacht am 6. September 1688 verlor der 26-jährige Held, der sich zuhause allerlei Affären leistete, ungefähr 5.000 Mann, die Türken zählten 7.000 Tote. Ungezählt blieben die Kriegsgefangenen. In der Residenzstadt des Kurfürstentums Bayern, wo das Gros zuerst ankam, nannte man sie "Beutetürken". Und vor den Stadttoren wurde ein erbeutetes Zelt aufgestellt.
Bei heimkehrenden "Türkenstreitern" war es üblich, Menschen als lebendige Trophäen mitzubringen. Man schenkte oder verkaufte diese Männer, Frauen und Kinder wie Sklaven an ein Adelshaus, allwo sie, exotisch kostümiert, als Lakaien oder Zofen, ein vergleichsweise angenehmes Leben führten. In München dienten diese Kriegsgefangenen oft als Hoflakaien und als Fronarbeiter. Dass sie hier den als "Türkengraben" bekannten, längst zugeschütteten Kanal ausgehoben hätten und die heutige Türkenstraße danach benannt sei, ist allerdings historisch umstritten.
Erst das Bekenntnis "ein Türck und verdammter Mensch" zu sein, dann die Zwangstaufe
Diese Leibeigenen galten zwar als "Mohammedaner", doch durften die allermeisten ihre Religion nicht behalten. Man machte sie katholisch. Das geschah nach strengem Zeremoniell: Durch Unterweisung in Bibel, Katechismus und Kirchenliedern sollten die "Heiden" auf die Taufe vorbereitet werden. Der Täufling musste dann öffentlich bekennen, "ein Türck und verdammter Mensch" zu sein, bevor er durch die Zwangstaufe erlöst wurde und einen christlichen Namen zugewiesen bekam. Taufpaten waren meist betuchte Zeitgenossen.
In der Regel folgte darauf die Einsegnung, die formelle Entlassung in die Freiheit und die Einbürgerung. Voraussetzung war jedoch, dass der vormals muslimische Neubürger die "Teutsche Sprache" sowie "Haubtstücke der Christlichen Lehre" erlernt hatte. Nicht wenige der "gewesten Türcken" machten danach Karriere in vertrauenswürdigen, aber im Volk nicht sehr beliebten Berufen, etwa als Steuereintreiber, Stadthauptmann oder Landvogt. Integration im 17. Jahrhundert.
In der nächsten Generation wurden aus den Beutetürken, die gern in deutsche Mittelstandsfamilien einheirateten, vorzugsweise Musikanten, Tänzer oder Märchenerzähler, Hofbedienstete, Hofdamen oder Mätressen, Berater, Wissenschaftler oder Diplomaten. Das gelang umso eher, als in der Barockzeit im Abendland, nicht zuletzt in der kurfürstlichen Residenzstadt München, die "Turquerien" und überhaupt die alte Kultur des Orients groß in Mode kamen. Wovon etwa der Mokka sowie Architekturen und kunstgewerblichen Arbeiten aus Porzellan, Glas oder Metall in Schlössern und Museen zeugen, zum Beispiel die "Welten des Islam" im Museum Fünf Kontinente.
Stefan Jakob Wimmer, Islamwissenschaftler in München und mit einer Muslima verheiratet, meint sogar, dass der Erbauer der "welschen Hauben" der Münchner Liebfrauenkirche durch eine 1486 veröffentlichte Illustration des islamischen Felsendoms in Jerusalem inspiriert wurde. Und die Moriskentänzer im Rathaus erinnern ihn schon im Namen an die Mauren im damaligen Spanien. Er entdeckte noch viele "Isar-Arabesken", etwa im Festsaal des Alten Rathauses eine geschnitzte Mondsichel, den muslimischen Halbmond.
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Johann Wolfgang von Goethe und Atatürk im Hotel Johann Wolfgang von Goethe in der Goethestraße. Foto: Thomas Stankiewitz
Jahrhundertelang lebten in der Isarmetropole weder Türken noch Juden. Bedarf für islamische Religionsgemeinschaften und Gebetsräume gab es erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Besucher kamen allerdings nicht aus der Türkei (die bis Anfang 1945 neutral war), sondern überwiegend aus den mittelasiatischen Staaten der Sowjetunion; sie waren als ehemalige Söldlinge oder Mitläufer der Wehrmacht in München gestrandet. Eine "Allmuselmanische Gesellschaft" richtete 1953 in der Siedlung Ludwigsfeld die erste Moschee ein. Um diese Zeit lebten in der Bundesrepublik etwa 3.000 Muslime. In München blieben sie zunächst Außenseiter.
Weit draußen in Freimann, unweit der Mülldeponie von Großlappen, durften sie ihre erste richtige Moschee errichten. Das dauerte von 1967 bis 1973. Ein Großteil der Baukosten stammte vom libyschen Diktator Muamar al-Gaddafi. Auch von Verbindungen zu einem obskuren Verein für ehemalige muslimische Wehrmachtangehörige war die Rede. Von gelegentlichen Razzien blieb das Gotteshaus nicht verschont. Äußerlich ist das moderne, in Blau und Weiß strahlende Ensemble mit dem 33 Meter hohen Minarett und eigenem Kindergarten recht ansprechend.
Die eigentliche Türken-Einwanderung begann mit den sogenannten "ausländischen Arbeitnehmern", kurz "Gastarbeiter" genannt. Am 30. Oktober 1961, unterzeichnete die Bundesregierung das erste Abkommen mit einem Nicht-EWG-Land, nach ähnlichen Vereinbarungen mit Italien, Griechenland und Jugoslawien. Wer aus der Türkei angeworben wurde – es waren bald Abertausende, ausschließlich Männer –, der musste erst mal 70 Stunden Bahnfahrt ertragen. Das Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof wurde zur süddeutschen Drehscheibe für die Gastarbeiter-Vermittlung.
Zum Empfang gab's Kaffee und Schweinefleisch-freie Wurst
"Ich hatte mir die erste Station in Deutschland als schönen Saal vorgestellt. Stattdessen kam ich in einen Keller voller Menschen. Es war eiskalt und stank." So erinnerte sich Adalet Günel, die ihren schon 1961 eingewanderten Eltern gefolgt war, in einem Interview mit dem Haus der bayerischen Geschichte. Die junge Türkin bekam eine Nummer und musste stundenlang warten. Wie die meisten ihrer Landsleute hat Adelet dann viele und immer bessere Arbeitsstellen geschafft – und einen deutsch-türkischen Verein für Behinderte gegründet; irgendwann will sie zurück.
Die Türken genossen eine Sonderrolle unter den 4.000 bis 4.500 ausländischen Gastarbeitern. Zum Empfang bekamen sie Wurst ohne Schweinefleisch, dazu einen 0,5-Liter-Becher Heißgetränk sowie zwei Bananen, Schmelzkäse, Butterkekse und eine kleine Tafel Schokolade. Gleich erlebten sie deutschen Ordnungssinn.
Anfangs wurden die aus Anatolien kommenden, orientalisch aussehenden Gastarbeiter oft scheel angesehen. Dabei fielen Türken in der ersten Generation, mehr noch in der zweiten, durch Fleiß, Geschicklichkeit und Tüchtigkeit auf. Zum Beispiel Mahir Zeytinoglu: Im Frühjahr 1973 mit dem Zug aus Istanbul angereist, saß auch er zwei Stunden mit zwei Bananen im Bunker an Gleis 11 fest. Bald bekam er einen Job in der Stadtgärtnerei. Er holte die Frau nach, machte vier Lebensmittelläden auf, dann einen Teppichhandel, dann ein Restaurant. Heute hat Mahir ein Hotel namens "Johann Wolfgang von Goethe", wo er das "O" mit einem Halbmond austauschen und sich im Sultanskostüm porträtieren ließ, das Bild hängt im Foyer neben dem von Johann Wolfgang von Goethe und Atatürk.
Andere Türken betreiben renommierte Restaurants, Boardinghäuser, Basare, Apotheken, Reisebüros und viele andere Geschäfte, vorwiegend im Bahnhofsviertel. Einige wurden bekannt als Fernsehmoderatoren, Politiker, Ärzte. Ein türkischer Kurde ist einer der größten Immobilieninvestoren Bayerns. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass die Gastarbeiter nach Ablauf ihres Einjahres-Vertrags wieder heimkehrten. Es kam anders: Viele holten Kinder nach, so erwuchs eine zweite Generation.
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Als der Nationalsozialistische Untergrund ab 2000 vorwiegend Türken ermordete, vermutete man zunächst Landsleute als Täter. Foto: dpa
Zwischen 1960 und 1974 kam jeder Dritte der über vier Millionen Ausländer, die über Gleis 11 in die Bundesrepublik geschleust wurden, aus der Türkei. Doch am 1. April 1974, nach einer Ölkrise, war plötzlich alles vorbei. Bonn verfügte einen Anwerbestopp für Gastarbeiter aus Nicht-EG-Staaten. Die Münchner "Weiterleitungsstelle" wurde dicht gemacht. Am 1. Mai 1974 stellte ein aus Vertretern von vier Entsender-Ländern gebildetes Komitee fest: "Lebensbedingungen oft sehr schlecht. Wohnungen gerade in München weit unter dem Standard, Mieten aber weit über Durchschnitt."
Außerdem verwandelten sich die bisher schon deutlichen Vorurteile in weiten Kreisen der Bevölkerung in eine gewisse Ausländerfeindlichkeit. Rechtsaußen, aber nicht nur da, kursierte die Parole: "Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg." Tatsächlich hatten Türken inzwischen ganze Branchen besetzt, beispielsweise die Münchner Müllabfuhr.
Sogar Hass wurde geschürt in jener Zeit, als Neofaschismus und Rassismus wieder erwachten. Münchens Behörden und andere Institutionen und Privatinitiativen bekamen alle Hände voll zu tun. Wesentliche Beiträge leistete nun der Ausländerbeirat, der nach anfänglichen Widerständen 1974 gewählt und mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet wurde.
Im Juli 1976 fand eine Demonstration statt, ein Plakat des Ausländerbeirats verkündete: "Denn alle Arbeiter sind Fremdarbeiter." Im Februar 1982 protestierten über 1000 Münchner auf dem Königsplatz gegen zunehmende Ausländerfeindlichkeit. Aus Hass und Hetze erwuchsen schließlich erste organisierte Gewalttaten. Am 29. August 2001 wurde der 38 Jahre alte Türke Habil Kilc in seinem Obst- und Gemüseladen in München-Bogenhausen durch einen Kopfschuss heimtückisch getötet; Frau und Tochter befanden sich gerade in Urlaub. Die Polizei ermittelte zum deutschlandweiten Komplex "Döner-Morde". Die letzte Folge läuft derzeit vor dem Münchner Landgericht.
Mit den Jahren entstand eine türkische "Parallelgesellschaft"
Forderungen nach einer deutschen "Leitkultur" und ähnliche Sprüche schreckten ab. Auch blieben Sprachprobleme. Mit den Jahren entstand eine türkische "Parallelgesellschaft", sagt der SPD-Landtagsabgeordnete Arif Tasdelen. Eine Volksgruppe, die sich eher weiter abspaltete oder im Familienclan verharrte, als sich der Gesamtgesellschaft ganz zu öffnen.
Nach einer Studie der Hanns-Seidel-Stiftung haben die Türken nach wie vor das größte Integrationsdefizit. "Die Menschen haben sich nicht willkommen gefühlt," sagt Tasdelen, ein Gastarbeitersohn. Dies alles brachte eine Wende, eine konstante Rückwanderung aus der schönen Stadt Münih. Hatten zur Jahrtausendwende noch 46.329 Einwohner Münchens einen türkischen Pass gemeldet, so ist deren Zahl bereits auf rund 40.000 geschrumpft. Reich an Erfahrungen und Ersparnissen kehren immer mehr Türken der zweiten und gar schon dritten Generation in ihre Heimat zurück.
Oder sie setzen ihre Erwartungen auf Recep Tayyip Erdogan, den starken Mann in Ankara.