True-Crime-Fall aus München: Eine Gräfin, ein Liebhaber und die Abendzeitung
München – Archive sind fad und verstaubt? Von wegen! Ulrike Hofmann vom Staatsarchiv München beweist, dass dicke Aktenbände spannender als ein Tatort und teils verzwickter als eine Seifenoper sein können. Wenn sie zu erzählen beginnt, welche alten Kriminalfälle aus Bayern sie ausgegraben hat, fühlt es sich an, als würde den Betroffenen wieder Leben eingehaucht.
Drei wahre Verbrechen aus den 50er, 60er und 70er Jahren hat sie für den Tag des Archivs am 2. März aufbereitet. Zwei spielen in München, eines in Fürstenfeldbruck. Sie hat dafür die Originalakten gewälzt und daraus True-Crime-Geschichten verfasst. Der Schauspieler Winfried Frey wird diese vortragen.

"Tödliche Liebe" – Staatsarchiv stellt drei Kriminalfälle aus München vor
Auch ein Sprecher des Landeskriminalamts wird dabei sein und die Verbrechen einordnen. So kündigt das Staatsarchiv die Veranstaltung an.
Dieses Jahr haben sich die Verantwortlichen das Motto "Tödliche Liebe" vorgenommen. Heimliche Liebschaften, Gefühlschaos, On-Off-Beziehungen – das hat es alles früher schon gegeben. Und es ging nicht immer gut aus. Die historischen Fälle sind nicht nur eine Zeitreise, sondern auch ein Blick in Gefühlswelten. Und ins alltägliche Leben.
Was Hofmann an den Alt-Fällen fasziniert: "In diesen Akten spiegelt sich das Leben ganz normaler Menschen aus der Vergangenheit wider", sagt sie der AZ. Solche Akten über Kriminalfälle seien schon deswegen nie langweilig, weil man so viel über die Verbrechen hinaus erfahren könne. Wie dachten die Leute damals? Wie haben die Menschen gelebt und gewohnt?
Wie die Abendzeitung einen Kriminalfall ins Rollen brachte
Am Fall Elfriede Kirchner etwa zeige sich, dass man in den 50ern noch deutlich beengter gewohnt habe. Die sechsköpfige Familie lebte mit einem Untermieter zusammen. "Es ist ein Unterschied, ob ich in einem Geschichtsbuch lese: Die 50er Jahre waren geprägt von Wohnungsnot", sagt die Archivarin. "Oder ob ich in Originalakten lese: Wir haben abends zusammen mit dem Untermieter in der Küche gekocht und uns zum Spielen getroffen." Deswegen sagt sie: "Man taucht in den Alltag der Menschen ein."
Und damit hinein in einen Fall, der bei der Lesung Thema sein wird. Wir befinden uns im Jahr 1970. Und das darf man so sagen: Die Abendzeitung spielt eine entscheidende Rolle. Denn ein AZ-Reporter bringt die Ermittlungen überhaupt erst in Gang.

1970: Mysteriöser Verletzter in der Klinik
Hofmann schildert: Im Dezember 1970 hört die Staatsanwaltschaft einen Reporter der Abendzeitung in einer Verhandlungspause erzählen, dass er von einem möglichen Verbrechen gehört habe. Demnach soll das Opfer eines versuchten Mordes in einer Münchner Klinik liegen. All das will er von einem betrunkenen Anwalt auf einer Nikolausparty gehört haben. Und die Verdächtige soll eine gut betuchte Frau sein.
Die Kripo? Weiß davon nichts. Wie sich später herausstellt, wollte das Opfer zunächst gar nicht zur Polizei gehen. Der Staatsanwalt kann die Information aber nicht einfach so stehen lassen, er muss der Sache nachgehen. Was sich durchaus als schwierig erweist, Stichwort: ärztliche Schweigepflicht.

Die Ermittler stehen zu Beginn also vor dem Nichts: Wer ist überhaupt das Opfer? Und wer der vermeintliche Täter oder die Täterin? "Die Ermittler mussten vier Monate lang erst einmal den Fall suchen!", so Hofmann. So lange dauert es, bis klar wird, wer überhaupt die Protagonisten bei diesem Verbrechen sind.
Gestatten: Das Opfer ist ein Portugiese (29), der in München lebt. Ebenso wie seine Geliebte, eine Gräfin (29) aus Schwabing. Sie soll ihren Geliebten und Geschäftspartner einer Pizzeria nach viel Hin und Her und auch Handgreiflichkeiten niedergestochen haben. Blutüberströmt kommt er ins Krankenhaus.

Der Deal: Er würde sie nicht beschuldigen. Dafür verspricht sie ihm finanzielle Unterstützung kurz zusammengefasst. In den Originalakten findet sich Hofmann zufolge noch viel mehr zur Beziehung, zum Drama zwischen den beiden und übrigens auch dem (Ex-)Ehemann der Gräfin. Ja, so einen gibt es in dem Fall auch noch.
Den Namen der Frau nennen darf das Staatsarchiv nicht, auch wenn er damals in der Zeitung stand. "Es greifen noch archivrechtliche Schutzfristen", erklärt Hofmann. Das mutmaßliche Opfer wiederum sei kein unbeschriebenes Blatt gewesen, weiß sie weiter. Gegen ihn habe es zuvor schon Ermittlungen gegeben, etwa wegen Körperverletzung.
Acht Aktenbände über einen Fall im Archiv
Was sie an dem Fall noch spannend findet: "Was bringt eine junge, hübsche, adelige Frau - von außen betrachtet möchte man meinen, sie hat alles, was man sich wünschen kann, – zu so einer Tat?" Sie war wohlhabend, hatte ein Diplom, alle Möglichkeiten. Und trotzdem: unglückliche Ehe, Scheidung, Unwahrheiten des Geliebten – er gibt den Akten zufolge etwa vor, selbst aus adeligem Hause zu stammen – Spoiler: Das stimmt nicht. Die Gräfin hält laut Hofmann lange an ihm fest. Später wird sie sagen, dass sie aus Notwehr gehandelt habe. Seine Version ist freilich eine andere.
Bis es soweit kommt, gibt es aber erst noch ein weiteres Hindernis. In den Originalakten heißt es zum Haftbefehl gegen die Gräfin: "Sie wohnt seit einiger Zeit nicht mehr in München. Ihr derzeitiger Aufenthalt ist unbekannt. Vermutlich hält sie sich im Ausland auf."
Sie kehrt dann doch zurück und wird den Ermittlern ihre Version erzählen. Das Gericht kommt zu der Einschätzung, wie Hofmann vorliest: "Die Angeklagte stach zu, um R., von dem sie sich in jeder Linie enttäuscht, gedemütigt und verletzt sah, einen gehörigen Denkzettel zu verpassen. Dieser Denkzettel sollte für ihn spürbar sein, ihm wehtun." Acht Aktenbände hat Hofmann für diesen Fall durchgesehen. Zudem die anderen Fälle, die vorgestellt werden (siehe unten).
Wer jetzt oder durch die Lesung neugierig wird und etwa den Namen der Gräfin nachlesen will, dem muss Hofmann sagen: "Wenn Sie ins Archiv gehen, müssen Sie ein berechtigtes Interesse nennen. Ich bin neugierig, reicht nicht aus." Die Unterlagen werden übrigens niemals vernichtet. "Was ins Archiv kommt, hat den Anspruch, für die Ewigkeit aufgehoben zu werden."
Die weiteren Fälle
Fall 2: Heiratsschwindler und Stalker
Es ist der 16. Dezember 1954, also nur rund eine Woche vor Weihnachten. Nelly Kirchner marschiert an diesem Tag zur Münchner Kripo in die Ettstraße. Mit einem schlechten Gefühl: Ihre Tochter Elfriede ist nicht nach Hause gekommen. Wo ist die 21-Jährige? Ist ihr etwas zugestoßen? Noch bevor das Jahr zu Ende geht, erfährt die Mutter die bittere Wahrheit: An Silvester findet die Polizei die Leiche in einer Gartenhütte in München. Die junge Frau wurde erstochen. Der Fall stellt die Ermittler vor viele Fragen: Die Kirchners haben einen Untermieter, welche Rolle spielt er? Der angebliche Arzt hat sich nicht nur als Heiratsschwindler und Stalker entpuppt, sondern seit Jahren ein heimliches Verhältnis mit dem Mädchen unterhalten, so kündigt das Staatsarchiv den Fall an. Könnte es sein, dass sie ihn verlassen wollte? Und er deswegen zu ihrem Mörder wurde?
Fall 3: Tödlicher Schluck
Es ist der 14. Februar des Jahres 1967. Ein Dienstag. Der Tag neigt sich schon dem Ende zu, als gegen 22 Uhr bei der Polizei in Fürstenfeldbruck das Telefon klingelt. Am anderen Ende ist ein Arzt aus dem örtlichen Krankenhaus. Er hat – wenig überraschend – schlechte Nachrichten: Ein junger Mann sei gerade gestorben. An Gift. Für die Ermittler ergeben sich viele Fragen, wie das Staatsarchiv in seiner Ankündigung verdeutlicht: War der Tote vielleicht nur ein Zufallsopfer? Galt der Anschlag einem arglosen Ehemann, Manfred Müller? Welche Rolle spielt seine Frau, ihr Ex-Mann und vor allem ihr Geliebter? Und was hat es mit der Pfalz und einem Enziankrug auf sich?
Zum Tag der Archive
Der zwölfte bundesweite Tag der Archive von 1. bis 3. März steht übergeordnet unter dem Motto "Essen und Trinken". Dazu gibt es auch Veranstaltungen und Aktionen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv sowie den Staatsarchiven München, Amberg, Landshut und Würzburg. Dem Bayerischen Wissenschaftsministerium zufolge geben allein in München 26 Archive am 1. und 2. März Einblicke in ihre Bestände. Alle zwei Jahre soll der Aktionstag Anfang März die Aufmerksamkeit "auf das breite Aufgabenspektrum und die zentralen gesellschaftlichen Funktionen der Archive" lenken, heißt es von den staatlichen Archiven.
Das Staatsarchiv München präsentiert, wie beschrieben, unter anderem historische Beziehungstaten. Ein Bücherflohmarkt bietet des Weiteren die Möglichkeit, Literatur zu kaufen, so die Ankündigung. Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv führen Archivare in die Recherche ein. Der Stenographen-Zentralverein Gabelsberger München unterstützt beim Entziffern und bei der Interpretation schriftlicher Unterlagen aus Privatbesitz. Die Restaurierungswerkstatt zeigt, wie Papier-, Einband-, Urkunden- und Siegelrestaurierung funktionieren. In den Fotowerkstätten erfahren Besucher unter anderem, wie im Rahmen der Bundessicherungsverfilmung Kulturgut für den Katastrophenfall gesichert wird. Mehr Infos zu den beteiligten Archiven in München und den Veranstaltungen zum Tag der Archive gibt es auf der Webseite der staatlichen Archive Bayerns: www.gda.bayern.de
Tag des Archivs am 2. März: Lesung "Tödliche Liebe" im Staatsarchiv München; Lesesaal, Schönfeldstraße 3;
14 Uhr: Vom Heiratsschwindler zum eifersüchtigen Stalker
15 Uhr: Eine Seifenoper aus Schwabing
16 Uhr: Tödlicher Schluck
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