Tochter eines Schwulen: Papa hat jetzt einen Freund

Warum heiratet ein homosexueller Mann eine Frau? Und was geschieht, wenn sich der Familienvater outet? Stefan und seine Tochter Andrea erzählen davon.
von  Natalie Kettinger
Glückliche Regenbogenfamilie (v.l.): Stefan (47) mit seiner Tochter Andrea (21) und seinem Partner Alex (26).
Glückliche Regenbogenfamilie (v.l.): Stefan (47) mit seiner Tochter Andrea (21) und seinem Partner Alex (26). © Frank Zuber

Ich bin schwul.“ Stefan ist 45 Jahre alt, als er diesen Satz zum ersten Mal ausspricht. „Die drei wichtigsten Worte meines Lebens“, wie er heute sagt. Denn obwohl er seit seiner Jugend weiß, dass er homosexuell ist, hat sich Stefan bis zu diesem Moment verleugnet. Er hat geheiratet, eine Familie gegründet, sich und seine ahnungslose Frau mit seinem Geheimnis gequält. Knapp 20 Jahre lang. Bis die Ehe daran zerbrach.

Trotzdem feiert die Familie mittlerweile wieder Weihnachten zusammen – mit den beiden Töchtern, Stefans Partner und dem neuen Mann seiner Ex-Frau. „Familie ist, was wir draus machen“, lautet der Slogan des Christopher Street Day 2015 in München. Stefans Familie lebt dieses Motto.

Warum Stefan eine Frau heiratete

„Warum habe ich überhaupt geheiratet?“ Der Kaufmann sitzt zuhause in Augsburg auf der Couch und denkt nach. Tochter Andrea (21) hat sich neben ihn gekuschelt. „Weil Du Kinder haben wolltest und die verklemmte Gesellschaft Dir keine andere Wahl gelassen hat. Als Du jung warst, gab es noch keine Eingetragenen Lebenspartnerschaften und das Adoptionsrecht war ein anderes.“ Stefan lächelt seine Tochter an, dann wird er wieder ernst.

„Ich bin 1968 geboren und in den 80ern wurde das Thema für mich relevant. Was wusste man damals über Homosexualität? Dass es nicht normal ist, wenn ein Mann auf Männer steht, dass es eine Krankheit ist. Hättest Du dann freiwillig gesagt: Ich hab’ das auch?“ Eine gute Frage.

Lesen Sie hier: Der Mann, der ein Mädchen war

Bis 1992 galt Homosexualität laut WHO als gesundheitliche Beeinträchtigung und erst zwei Jahre später schaffte Deutschland den sogenannten Schwulenparagraf 175 ab, der Männer-Sex seit 1872 unter Strafe gestellt hatte.

In der schwäbischen Provinz treibt dieses Klima geradezu absurde Blüten. „Ich habe trotzdem erste Erfahrungen mit Jungs gemacht – aber wir haben mit keinem Wort darüber gesprochen, was wir da eigentlich tun.“

Bei einem USA-Besuch begegnet Stefan der neun Jahre älteren Michelle. Sie ist Amerikanerin. „Ich fand sie toll, einen anziehenden, schönen Menschen.“ Die beiden heiraten zwei Jahre später. „Ich wusste einfach nicht, dass man als schwuler Mann nicht dauerhaft in einer heterosexuellen Beziehung glücklich sein kann. Außerdem wollte ich unbedingt eine Familie“, gibt Stefan zu.

"Wir haben ein ganz normales Leben geführt"

Michelle bringt die kleine Alexis (heute 28) mit in die Ehe, nach ein paar Jahren wird Andrea geboren. „Wir haben ein ganz normales Leben geführt: Arbeiten, Häusle bauen, Umzug, Vorsitzender vom Elternbeirat, Countryband. Lange Zeit war das absolut okay.“

Stefan und Michelle gelten als Vorzeigepaar. Doch unter der Heile-Welt-Oberfläche braut sich etwas zusammen. Michelle fühlt sich nicht richtig geliebt. „Sex gab es nur, wenn sie die Initiative ergriffen hat. Ich hatte da nie so das Bedürfnis“, erzählt Stefan. Auch er ist unglücklich. „Unser Leben war voll, aber ich habe die ganze Zeit etwas vermisst.“ 2009 hat er einen Burnout.

Stefan betrügt seine Frau nie. Doch ihm fehlt jahrzehntelang der Mut, sich ihr zu offenbaren: „Ich hatte Angst, sie zu verletzen.“

Die Familie zerbricht

Mitte 2011 bricht die Familien-Fassade zusammen: Erst sucht Michelle noch Hilfe bei einem Psychotherapeuten, dann kann sie nicht mehr und fliegt für eine Auszeit nach Amerika. Ein alter Schulfreund, Lou, nimmt Kontakt zu ihr auf. Es knistert. Sie will die Scheidung.

Lesen Sie auch: So bunt sind Münchens Familien

Alexis, die Schauspielerin werden möchte, lebt zu diesem Zeitpunkt bereits in Los Angeles. Andrea leidet mit ihren Eltern. „Ich war fertig mit den Nerven“, sagt sie. „Meine Eltern haben sich nie gestritten und plötzlich stimmte die Welt nicht mehr.“ Auch Stefan ist erschüttert. „Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Einmal provoziert er beinahe einen Autounfall, um sein Leben zu beenden. „Aber ich hab’ vorher gebremst – wegen Dir.“ Er sieht seine Tochter an. Andrea nimmt ihn in den Arm und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. „Das hast Du sehr gut gemacht.“ Beide haben Tränen in den Augen.

Als die Mutter geht, bleibt Andrea bei ihrem Papa, in „unserer Vater-Tochter-WG“. Zwei Frauen bringt Stefan in dieser Phase noch nach Hause. Jeweils nur für kurze Zeit. „Ich konnte nicht Nein sagen.“ Er grinst. „Aber eigentlich hätte ich gewollt, dass mich ein Typ anspricht.“

Das "Power-Outing"

Als sich ein guter Bekannter als Transgender outet, spürt Stefan, dass jetzt auch für ihn die Zeit gekommen ist. An einem Sonntagmorgen im Frühjahr 2013 liegt er mit seiner damaligen Freundin im Bett und will nicht mehr. „Ich habe sie heimgeschickt, diesen Bekannten angerufen und gesagt: ,Ich bin schwul’. Da fiel eine ganze Mauer in meinem Inneren um, nicht nur ein Stein von meinem Herzen.“ Endlich ist es raus.

Stefan beginnt, was er sein „Power-Outing“ nennt: In Windeseile weiht er erst Freunde und Kollegen ein, dann seine Töchter. „Ich bin Azubi zur Gesundheits- und Krankenpflegerin“, erzählt Andrea. „Wir saßen beim Essen und hatten gerade über eine bestimmte Krebserkrankung gesprochen, als Papa sagte: ,Du, ich muss mit Dir reden.’“ Die junge Frau bekommt Angst. „Ich dachte, er hat diesen Krebs und sagt mir jetzt, dass er sterben muss.“ Als er, nach langem Herumdrucksen, mit der Wahrheit herausrückt, weint sie vor Erleichterung. „Sein Outing war für mich völlig unerwartet, aber nicht schlimm.“

Ihrer Schwester, die Stefan jetzt – beim Interview für diesen Artikel – über sein Tablet aus Amerika zuschaltet, geht es ähnlich. „Plötzlich hat vieles Sinn gemacht“, sagt Alexis. „Ich habe immer gespürt, dass da etwas war – aber ich wusste nicht, was. Es ist schön, dass er sich nicht mehr verstecken und keine Angst mehr haben muss. Letztendlich ist es doch völlig egal, wer mit wem schläft.“

„Stefan ist mein bester Freund“, sagt seine Ex-Frau

Das schwierigste Gespräch steht Stefan zu diesem Zeitpunkt noch bevor: Er muss Michelle die Wahrheit sagen, die wieder in den USA lebt. Er ruft sie an. „Sie war wütend, hat mich wüst beschimpft und gefragt, was in unserer Ehe noch alles eine Lüge war. Das ging so lange, bis alles raus war. Aber das soll sie selbst erzählen.“ Wieder tippt er auf sein Tablet, dann erscheint Michelles freundliches Gesicht auf dem Bildschirm.

„Ich habe eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht nur um mich ging, sondern vor allem um ihn. Dass er aus Liebe zu uns und unserer Familie nichts gesagt hat.“ Michelle hat ihren alten Schulfreund Lou geheiratet, manchmal erscheint er neben ihr im Bild. Ihre Zuneigung zu Stefan ist trotz allem geblieben. „Ich habe ihn sehr, sehr lieb. Er ist ein wichtiger Mensch in meinem Leben, mein bester Freund und wir gehören als Familie zusammen. Alle.“

Familientreffen (v.r.): Stefan, seine Ex-Frau Michelle, ihr neuer Mann Lou, die Töchter Alexis und Andrea sowie Stefans Freund Alex feiern 2014 gemeinsam Weihnachten in Bayern.

Damit meint Michelle auch Alex (26), Stefans Freund, über den die Töchter sagen, er sei Papas Seelenverwandter und als Stiefvater „total lieb“. Weihnachten 2014 hat die Regenbogenfamilie gemeinsam in Bayern gefeiert. Glücklich und harmonisch. Für die Sommerferien planen die Augsburger einen Gegenbesuch in Amerika. Außerdem steht ein großes Familien-Fest bevor, auf das sich alle gemeinsam Freude: die Hochzeit von Stefan und Alex.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.