Der Mann, der ein Mädchen war

Der Münchner Liam (19) ist als Anna auf die Welt gekommen. Weil er ist, wie er ist, hat er Probleme – in der Schule, im Elternhaus. Aber es gibt Hoffnung.
Natalie Kettinger |
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CSD 2014 in München: "Regenbogen der Geschlechter. Wertvoll sind wir alle!" Der Umzug 2015 steht unter dem Motto "Familie ist, was wir draus machen"
dpa CSD 2014 in München: "Regenbogen der Geschlechter. Wertvoll sind wir alle!" Der Umzug 2015 steht unter dem Motto "Familie ist, was wir draus machen"

München - Liams Geschichte ist eine schmerzvolle. Sie handelt von innerer Zerrissenheit, von äußeren Verletzungen, von der Suche nach sich selbst und der Sehnsucht nach Verständnis. Liams Geschichte beginnt damit, dass er als Anna geboren wird.

Weil der Christopher Street Day (CSD) heuer das Motto hat "Familie ist, was wir draus machen" und Liam sich verzweifelt wünscht, dass seine Eltern ihn so akzeptieren, wie er ist, hat sich der 19-Jährige entschlossen, in der AZ von sich zu erzählen.

"Meinen Eltern war das peinlich"

Liam sitzt auf einer Wiese im Pasinger Stadtpark und zupft an einem Grashalm. Er ist sehr schlank, wirkt fast zerbrechlich in seinen weiten Skater-Klamotten. „Wo soll ich denn anfangen?“, fragt er und schaut ein bisschen skeptisch unter seinem Cap hervor. Nachdenklich rollte er sich eine Zigarette. Dann beginnt er. Ganz vorne. Bei Anna.

Das kleine Mädchen wächst in einem Akademiker-Haushalt im Münchner Osten auf. Anna trägt am liebsten Hosen, ihre Haare sind kurz und sie wird ständig für einen Buben gehalten. „Meinen Eltern war das peinlich – mir nicht“, sagt Liam und muss lachen. „Dafür fand ich es ziemlich blöd, dass ich zur Kommunion ein Kleid anziehen musste.“

All das ist nicht unbedingt ungewöhnlich, viele Mädchen haben solche Phasen. Doch Anna ist anders. Sie schlüpft heimlich in die Unterhosen ihres Bruders, weil sich das für sie „irgendwie richtig“ anfühlt. Und wenn beim Mutter-Vater-Kind-Spielen noch ein Papa gebraucht wird, hebt sie selig den Finger.

"Es hat sich nicht so angefühlt, als wäre das wirklich ich"

Mit 14 oder 15 verliebt sich Anna zum ersten Mal in einen Jungen. „Jetzt muss ich ein richtiges Mädchen sein“, denkt sie, lässt sich die Haare wachsen, trägt Schmuck und schminkt sich.

„Das war zeitweise okay“, sagt Liam. „Aber es hat sich nicht so angefühlt, als wäre das wirklich ich.“

Etwa zur selben Zeit wird der Teenager depressiv. Er hat Panikattacken, Weinkrämpfe und ritzt sich mit Rasierklingen, außerdem wiegt er bei einer Größe von 1,74 Metern nur noch 45 Kilo – Symptome, von denen viele Transgender berichten.

Ein Vertrauenslehrer schickt Anna zu einer Therapeutin, die rät zu einem Klinikaufenthalt wegen Suizidgefahr und einer angehenden Essstörung.

Ihren Eltern kann sich Anna nicht öffnen. „Die wissen wenig über mich. Sie erzählen selbst nie aus ihrer Jugend. Und ich war in dieser Zeit eigentlich immer in meinem Zimmer, habe Kassetten gehört und gemalt.“ Als Anna ihren Eltern dann doch von der Therapie erzählt, die eine stationäre Behandlung befürworten, lehnt der Teenager erst recht ab: „Da habe ich mich abgeschoben gefühlt.“

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"Du gehörst nicht dazu. Du bist anders."

Die Gymnasiastin will ihre Probleme lieber selbst in den Griff bekommen. Irgendwie. Das scheint – kurzfristig – zu gelingen, als sie sich in ein anderes Mädchen verliebt. „Ich wusste, dass sie lesbisch ist, und dachte: Vielleicht ist es ja das, was mit mir los ist. Es hat sich besser angefühlt, aber auch noch nicht ganz richtig.“

Als die Beziehung an der Schule bekannt wird, sperren die Mitschülerinnen Anna vor dem Sport-Unterricht aus der Umkleidekabine aus. „Du gehörst nicht dazu. Du bist anders.“

Auf Unterstützung seitens ihrer Eltern wagt sie nicht zu hoffen. Einige Bemerkungen der Mutter über Lesben haben sie stark verunsichert.

Die Depressionen kehren zurück, wieder verletzt sich die Unglückliche selbst. „Eine Freundin hat irgendwann gecheckt, dass ich nicht mehr zurechtkomme und gesagt: Hey, da gibt’s ein spezielles Jugendzentrum in München, geh’ da mal hin.“ Die Freundin meint den Jugendclub „diversity“ in der Blumenstraße, einen Treffpunkt für junge Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender.

"Es ist wunderschön, dass man dort angenommen wird, wie man ist."

Eine gute Idee. „Es ist wunderschön, dass man dort angenommen wird, wie man ist. Es gibt dort Leute, die dieselben Ängste haben wie ich und Leute, die das alles schon hinter sich haben. Man kann sich austauschen, ohne sich dabei komisch zu fühlen. Die Älteren kümmern sich um die Jungen, ein bisschen wie große Geschwister“, sagt Liam. Gleich am ersten Abend findet Anna zwei Freundinnen – und beschließt, sich vor ihren Eltern als Lesbe zu outen.

Das Gespräch fällt ihr unendlich schwer. „Ich habe geweint und mich dafür entschuldigt, dass ich nicht das bin, was ich in den Augen meiner Eltern sein sollte.“ Die erste Reaktion der Mutter ist positiv. „Wir bekommen das hin“, sagt sie. Doch ein paar Wochen später schneidet sie das Thema erneut an, diesmal deutlich skeptischer. „Sie hat gesagt, Homosexualität sei falsch. Wir dürften meiner kleinen Schwester nichts davon verraten, damit wir ihre heile Welt nicht kaputtmachen.“

Annas Panikattacken werden so stark, dass sie in der elften Klasse die Schule schmeißt. „Ich konnte kaum noch raus. Im Unterricht hat sich mir ständig der Hals zugeschnürt, ich bekam Heulkrämpfe und wusste nicht, warum.“

"In der Klasse gab es die Tussis, die Bad Boys, die normalen Leute – und mich."

Die Situation entspannt sich etwas, als Anna sich erneut verliebt, diesmal in einen jungen Mann, einen Kumpel, sehr zur Freude der Eltern. „Das war anfangs schon komisch, weil wir doch eigentlich alle auf Frauen standen und ich die Vorstellung, etwas mit Männern zu haben, beinahe abstoßend fand.“ Aber Tobi (heute 23) ist für Anna „mein bester Freund und ein bisschen mehr“. Er tut ihr gut – genau wie die Artzney, die sie jetzt gegen ihre psychischen Störungen nimmt.

Anna fühlt sich stark genug, an der FOS ihr Fachabitur zu machen, und meldet sich an. Aber im Schulalltag kehren die alten Probleme zurück. „In der Klasse gab es die Tussis, die Bad Boys, die normalen Leute – und mich.“ Das Mädchen, das sich gibt und kleidet wie ein Junge; das die anderen Mädchen aus dem Damen-WC werfen; dem ein Mitschüler beim Bäcker „Missgeburt“ hinterherruft. Es geht ihr wieder schlechter.

„Mir ist oft aufgefallen, dass die Leute mich angeschaut und sich gefragt haben: Was ist das jetzt? Ein Mann? Eine Frau? Ein Es? Das hat mich sehr verletzt.“

In ihren Träumen ist Anna jetzt ein Junge

Der Facebook-Eintrag einer Freundin ändert schließlich alles. „Wir waren uns echt ähnlich und ich hab’ immer gedacht: Cool, es gibt doch noch ein Mädchen wie mich. Dann hieß sie bei Facebook plötzlich Fin und war trans.“

Trans? Im ersten Moment weiß Anna gar nicht, was es damit genau auf sich hat. Doch sie ist elektrisiert, surft stundenlang im Internet und informiert sich. Transgender sind Menschen, deren biologisches Geschlecht nicht mit dem übereinstimmt, dem sie sich zugehörig fühlen. „Menschen wie ich.“ In ihren Träumen ist Anna jetzt ein Junge. „Das fühlt sich richtig an. Endlich.“

"Meine Mutter sagt oft, sie kenne diesen Liam nicht"

Der erste, dem sie davon erzählt, ist ihr Freund Tobi. „Wir lagen am Weihnachtsabend im Bett und ich habe vor Angst geweint.“ Doch Tobi reagiert sensationell. „Ich dachte, jetzt käme was wirklich Schlimmes“, sagt er – und dass er immer für Anna da sein wird.

Tobi hält Wort. Auch als Anna beschließt, fortan als Mann zu leben. Mittlerweile spricht er ganz selbstverständlich von „meinem Freund Liam“. Die Clique des Paares, aber auch die Schulleitung reagieren offen und verständnisvoll.

Anders Liams Eltern. „Meine Mutter sagt oft, sie kenne diesen Liam nicht, sie kenne nur ihre Tochter“, erzählt der 19-Jährige und sieht traurig zu Boden. „Dabei habe ich mir so sehr gewünscht, dass meine Eltern mir zum zweiten Mal einen Namen geben und ich so etwas von ihnen in mein neues Leben mitnehmen kann.“ Ein Wunsch, den viele Trans-Menschen haben.

Ein Jahr lang will Liam nun als Mann leben, bevor er Testosteron nimmt, das seinen Körper für immer verändern wird. Nicht, weil er an seiner Entscheidung zweifelt. Sondern, weil er seinen Eltern Zeit geben möchte, sie mitzutragen.

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Die Öffnungszeiten und Angebote des diversity-Jugendzentrums in der Blumenstraße 11, Telefon 089-55 266 986, finden Sie im Internet unter diversity-muenchen.de

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