Werksviertel: Ein großer Mosaikstein
Berg am Laim - Mehr als 7.000 Arbeitsplätze, Wohnungen für 3.000 Menschen, eine Boulderwelt, zwischenzeitlich zwei Fitnessstudios - inzwischen nur noch eins -, Architekturbüros, Consulting Firmen, Quartiersmanagement, ein Nachbarschaftstreff, eine Grundschule und ein Konzertsaal als krönender Höhepunkt. So kann man die 390.000 Quadratmeter Werksviertel zusammenfassen, auch wenn das dem Prestigeobjekt natürlich nicht ganz gerecht wird.
Noch kann man Vieles nur erahnen, schließlich wird noch gebaut. Grün soll es auch werden, davon ist wegen des Wetters aber noch nicht viel zu merken. Aber: Schon jetzt gab es den ersten Architekturpreis für das Werk 12.
Gut möglich, dass noch weitere folgen, die Lobgesänge für den neuen Konzertsaal sprechen Bände. Es soll ein innerstädtisches Viertel werden: Leben, arbeiten, ausgehen, einkaufen, alles an einem Ort.
Ein Stadtteil mit Problemen
Aber ein neues, betont urbanes Viertel entsteht nicht im luftleeren Raum. Und wer von Haidhausen aus die Rosenheimer Straße und anschließend die Gleise überquert, ist dann aber nicht nur im Werksviertel, sondern in einem Stadtteil, den man in Zahlen so ausdrücken kann: Die höchste Überschuldungsquote pro Einwohner, hier leben also viele Menschen, die ihre Schulden nicht bezahlen können, die viertniedrigste Kaufkraft pro Einwohner Münchens. Das Durchschnittsalter der Mütter ist das fünftjüngste, was ein Indikator für wenig akademische Bildung ist.

Die Binnenwanderungsziffer, mit der angegeben wird, wie oft Menschen innerhalb Münchens umziehen, liegt ebenfalls am unteren Ende. Nur in Aubing und Pasing wohnen die Leute durchschnittlich länger. Diese Zahlen zeigen vor allem eins: Berg am Laim ist bisher von Gentrifizierung quasi nicht betroffen. Auch wenn die Mieten hoch sind - aber in München sind die Mieten überall hoch.
"Ich glaube nicht, dass man an die Berg am Laimer gedacht hat, als man das geplant hat", sagt Julian Zieglmaier (Die Linke) vom Bezirksausschuss. Der Student steht vor einem Container, in dem der Verein "Ein Herz für Rentner" Unterschlupf gefunden hat: "Meine Oma würde wohl nicht hierherkommen." Zieglmaier wirkt etwas unschlüssig beim Gang durchs Werksviertel.
Auf der einen Seite scheint er die Aufbruchstimmung aufzusaugen, ist interessiert und neugierig, lobt die Architektur, die Verbindungen von Neu und Alt. Doch so ganz überzeugt ist er nicht, vor allem was die soziale Infrastruktur betrifft: "Auch das Sozialreferat hat gesagt, wir bräuchten dringend Betreutes Wohnen für Senioren oder ein Altersheim." 2025 werden voraussichtlich 200 vollstationäre Betreuungsplätze in Berg am Laim fehlen.
Hochkultur wird auf Subkultur
Der "Ein Herz für Rentner"- Container wirkt etwas fehl am Platz. Aber lange wird er sowieso nicht mehr dort stehen; Ende 2022 ist Schluss für das Container-Collective, in dem eine Kunstgalerie, das Internetradio 80.000, Gastronomie und Ateliers in den vergangenen Jahren Platz gefunden hatten.
Nicht nur pandemiebedingt sind viele schon wieder ausgezogen, auch die Stimmung passte nicht mehr. Von Touristenführungen zu den Künstlerinnen ist die Rede und auch die "Knödelalm", die direkt am Ende der Container ihren Platz gefunden hat, passte mit ihrem Après-Ski-Konzept nicht so recht zu den alternativen Kreativen.
Das sind Konflikte, die dem Werksviertel wohl sowieso bevorstehen. Hochkultur wird auf Subkultur treffen, sich mischen, sich streiten. Und die Berg am Laimer, die erst einmal nicht Teil einer Szene sind, sondern schlicht Anwohner, treffen jetzt schon auf Skater, Künstler und Unternehmensberater.
Doch genau das mache das Projekt so spannend und eben so urban, sagt etwa Stadtbaurätin Elisabeth Merk (parteilos): "Darauf freue ich mich am meisten, wenn in einem coronafreien Sommer sich das Hochkultur-Publikum mit den Alternativ-Kultur-Gängern mischt."
Merk selbst hat das Werksviertel nur geerbt, obwohl sie schon 14 Jahre Referentin ist. Die lange Zeitspanne zeigt weniger das langsame Mahlen der Behörden, sondern die Größe und Komplexität des Projekts. Es gibt allein elf verschiedene Grundstücksbesitzer, mit denen man sich einig werden musste. Vor nun 20 Jahren schrieb die Stadt den Planungswettbewerb aus. 2011 stand der Bebauungsplan, seit 2018 ist er in Kraft.
"Nicht jeder Standort kann immer alles"
Davor war das ehemalige Gewerbegebiet, auf dem Pfanni bis 1996 Knödelteig und andere Kartoffelprodukte produzierte wie Optimol Schmieröl - quasi der Negativfilm Münchens: Während es tagsüber sehr ruhig war auf dem Gelände, füllten Partygänger ab 23 Uhr die über 30 Clubs und Diskotheken. Der jüngst verstorbene Wolfgang Nöth hatte 1996 das Gebiet gepachtet und dort den Kunstpark Ost geschaffen, der 2003 zu Kultfabrik und Optimolwerken wurde.
Den Betreuungsbedarf für Senioren hatte 2011 wohl niemand auf dem Schirm, die Wohnungsnot allerdings schon. Nur ist das Werksviertel als reines Wohnquartier ungeeignet. "Nicht jeder Standort kann immer alles", erklärt Merk. Für ein Wohnquartier ist allein schon die Lärmsituation durch die Gleise am Ostbahnhof ein Problem. Auch die umliegenden Straßen sind alle eher größer als kleiner und im Falle der Aschheimer beziehungsweise Ampfinger Straße fährt auch die Tram durch.
Für Büros stört das weniger und die Verkehrsanbindung spricht für Arbeitsplätze und Einzelhandel. Die Stammstrecke, eine U-Bahnlinie, Regionalzüge, zehn Buslinien und zwei Trambahnen halten dort. "Wir können so etwas nicht einfach ein paar Stationen weiter außerhalb bauen, das würde verkehrstechnisch nicht funktionieren", so Merk.

Im Planungsreferat wird sowieso in größeren Maßstäben gedacht: Nämlich in Handlungsräumen, so heißen die Areale dann. Das Werksviertel gehört zum Handlungsraum 3 "Rund um den Ostbahnhof". Wobei das nach weniger klingt, als es ist: Das in 15 Teile eingeteilte Areal zieht sich von der Tegernseer Landstraße in Giesing über den Ramersdorfer Ortskern im Süden und eben den Ostbahnhof im Norden bis zur Neumarkter Straße in Berg am Laim. Das Werksviertel ist insofern nur ein kleiner Teil des Plans, nur eben ein ziemlich prominenter.
Im großen Plan der Stadt ist auch mehr an die Senioren gedacht worden als speziell beim Werksviertel. So soll das stadtweite Konzept "Wohnen im Viertel" der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewofag aushelfen. Durch ambulante Pflegedienste, die von allen Bewohnern im Umkreis der Standorte in Anspruch genommen werden können, soll "selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung" ermöglicht werden.
In Berg am Laim gibt es bereits zwei Standorte, im gesamten Handlungsraum 3 noch zwei weitere. Auch arbeitet das Sozialreferat daran, andere Standorte für Betreutes Wohnen oder Alters- und Pflegeheime zu kaufen, doch das ist wie immer kompliziert und vor allem teuer.
Immerhin Platz - in München sonst ein rares Gut - gibt es in Berg am Laim durchaus. Als möglicher Standort ist beispielsweise der sogenannte Truderinger Acker im Gespräch. Auch sonst hat das Planungsreferat viel vor im Viertel: Mehr Grünflächen soll es geben, zum Beispiel entlang der Gleise am Leuchtenbergring. Außerdem Fußgänger- und Radlerbrücken über die S-Bahn, und dann gibt es noch das Branntweinareal an der Neumarkter Straße. "Wie ein großes Mosaik" beschreibt Merk ihre Arbeit. Jeder einzelne Aspekt ist kleinteilig und doch ohne das große Ganze nicht zu verstehen.
Das Werksviertel kann vielleicht eine Verbindung sein zwischen dem beschaulichen Berg am Laim und der hektischen Innenstadt. Ein Ort, um sich zu treffen, um die Menschen zu erleben, die man sonst nicht sieht, die man auch nicht kennt. Zieglmaier übrigens ist schon verabredet, um in einer neuen Bar im Werksviertel etwas trinken zu gehen, sobald es wieder geht. Vielleicht trifft der Student dort dann die Stadtbaurätin und der Rentner die Künstler vom Container-Collective. Das wäre doch einfach schön.