Studie über Münchner Stadtviertel: Neuperlach ist schön!

Neuperlach ist 50 Jahre alt – und die Bilanz sehr viel besser als man glauben möchte. Architekturprofessor Andreas Hild hat genau hingeschaut und gerät fast ins Schwärmen.  
Christa Sigg |
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Marx-Zentrum, Karl-Marx-Straße, Neuperlach, ca. 1975
Kurt Otto/WSB Bayern Doblinger Unternehmensgruppe Marx-Zentrum, Karl-Marx-Straße, Neuperlach, ca. 1975

Die Trabantenstadt ist 50 Jahre alt – und die Bilanz sehr viel besser als man glauben möchte. Architekturprofessor Andreas Hild hat genau hingeschaut und gerät fast ins Schwärmen.

Neuperlach - Was für eine Utopie! In den 1960er-Jahren sollte Neuperlach die Münchner Wohnungsnot im ganz großen Stil lösen – auf 1.000 Hektar Fläche wurde für 80.000 Menschen gebaut. Doch bald galt das Superprojekt als städtebauliches Desaster. Eine völlige Fehleinschätzung, findet Andreas Hild. Mit Studierenden der TU München hat der Architekturprofessor jetzt ein umfassende Studie mit dem Titel "Neuperlach ist schön" vorgelegt.

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AZ: Herr Hild, wenn vom "schönen München" die Rede ist, tauchen inzwischen auch der Norden oder das Bahnhofsviertel auf. Nur Neuperlach nicht.
ANDREAS HILD: Gerade deshalb wollten wir mit dem Buchtitel auch provozieren. Aber Stadtneugründungen, die viele Menschen an einen Ort bringen, habe immer ein Akzeptanzproblem. Das war früher bei der Entstehung der Maxvorstadt sicher nicht anders. Es braucht eine Weile, bis die Menschen Positives mit einem Ort verbinden.

Marx-Zentrum, Karl-Marx-Straße, Neuperlach, ca. 1975
Marx-Zentrum, Karl-Marx-Straße, Neuperlach, ca. 1975 © Kurt Otto/WSB Bayern Doblinger Unternehmensgruppe

Neuperlach gibt es immerhin seit 50 Jahren.
Neuperlach ist aber auch riesig, wir reden von 55.000 Menschen, die dort leben. Und eigentlich sollten es ursprünglich sogar 80.000 sein. Es gab ja außerdem die Überlegung, Haidhausen abzureißen, um von der Innenstadt freie Bahn nach Neuperlach zu haben. Und natürlich waren eine Zeit lang die sozialen Zustände nicht wirklich stabil.

Die besingt Georg Ringsgwandl mit den Mopedrockern aus Neuperlach.
Zum Beispiel. So entsteht eine Außenwahrnehmung, die länger Bestand hat als die tatsächliche Wahrnehmung der Menschen vor Ort. Für viele und selbst Politiker ist dieses Neuperlach eine Trabantenstadt ganz weit draußen in einer öden Gegend, in der niemand leben will. Seit ein paar Jahren beginnt sich dieses Bild allerdings zu wandeln. Auch unsere Studie will hier einen Beitrag leisten.

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In Abbildungen Neuperlachs sieht man meistens endlose Häuserblocks, die überall stehen könnten.
Neuperlach ist aber vor allem eine immense stadtplanerische Vision und Leistung der Nachkriegsgesellschaft. Machen Sie sich die Dimensionen klar: Freiham mit seinen 250 Hektar ist aktuell eine der größten Maßnahmen in Europa, Neuperlach hat fast 1000 Hektar. Deshalb kann die moderne Stadtgesellschaft gerade von Neuperlach in seiner Entstehungszeit etwas lernen.

Aber es wurde viel korrigiert – und nicht unbedingt zum Besten.
Natürlich sind auch Fehler gemacht worden, aber nicht etwa, weil die Beteiligten unfähig waren. Im Gegenteil. In München ist einiges dazwischengekommen und hat viel Geld vom Projekt Neuperlach abgezogen. Ganz massiv waren das die Olympischen Spiele. Aus der Distanz ist dieser Stadtteil aber sehr viel erfolgreicher, als man vor 30, 40 Jahren geglaubt hat. Und so wird es übrigens auch mit Riem sein.

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In Neuperlach hat man das Zentrum nicht konsequent genug umgesetzt, und es war ja auch viel mehr Kultur geplant.
Das Gärtnerplatzviertel wurde durch das hinzugekommene Theater aufgewertet. Solches fehlt in Neuperlach, und diese Fehler darf man nicht wiederholen. Dort ist letztlich die Bevölkerungsdichte aber zu niedrig für all die Infrastrukturmaßnahmen, die man sich wünschen würde. Ich kann immer ein größeres Angebot schaffen, wenn dessen Rentabilität sichergestellt ist. Dazu braucht es dort aber eher mehr als weniger Leute. Die Maxvorstadt hat man in der ersten Phase relativ locker bebaut, erst mit der zweiten Bevölkerungswelle im späten 19. Jahrhundert ist das Viertel so geworden, wie wir es heute kennen.

Viele Häuser in Neuperlach wirken, als seien riesige Raumschiffe eher zufällig auf der grünen Wiese gelandet.
Dahinter steckt die moderne Idee der Stadt im Park. Nur sind die öffentlichen Räume eben nicht sonderlich gut nutzbar und schlecht mit den Häusern verknüpft. Das hat mit einer aus der Moderne kommenden Städtebaudoktrin zu tun, die bestimmte Aspekte der Blockrandstadt und der Raumbildung bewusst ablehnte. Neuperlach ist ja nur eine von vielen Siedlungen, die die Neue Heimat gebaut hat – wenn auch die größte. Sie haben in Köln Chorweiler oder in der Neuen Vahr in Bremen vergleichbare Problemstellungen. Insofern ist "Neuperlach ist schön" nicht nur ein Plädoyer für den Münchner Stadtteil, sondern auch der Versuch, sich diesen Siedlungen deutschlandweit zu nähern.

Was hat Sie an Neuperlach überrascht?
Die Wohnungen haben zum größten Teil sehr gute Grundrisse. Ob man dem entsprechenden Haus einen Architekturpreis geben würde, steht wieder auf einem anderen Blatt. Diese Art Architektur hat zurzeit keine Lobby – auch nicht in Fachkreisen. Genauso würde man die dazugehörigen großen Außenflächen heute anders nutzen. Trotzdem hat Neuperlach eine große Qualität und enormes Potenzial.

Bis 2030 rechnet man in München mit einem Zuwachs von 200.000 Einwohnern. Welche Rolle könnte Neuperlach spielen?
Eine ganz wesentliche. Ich wundere mich immer, dass alle meinen, man könne das Wohnproblem durch den Dachgeschossausbau in der Maxvorstadt lösen. Wir müssen uns doch fragen, ob wir das Problem an solchen Stellen eher symbolisch und mit einem immensen planerischen und bürokratischen Aufwand oder tatsächlich lösen wollen. Da bietet Neuperlach die Möglichkeit, relativ viele Wohnungen zu generieren. Etwa durch zusätzliches Baurecht.

Wie kann sich das konkret auswirken?
Wenn Sie größere Freibereiche für alle Wohnungen bieten wollen und bei der Sanierung mehr als einen neuen Wärmeschutz, neue Fenster und vielleicht noch einen neuen Aufzug umsetzen wollen, ist das über die Miete nicht finanzierbar. Man könnte dem Investor aber anbieten, neben sein Haus ein weiteres zu bauen und mit dem Geld, das damit verdient wird, auch den älteren Bestand deutlich aufzuwerten. Die Finanzstruktur in Frankreich ist eine andere, aber die Projekte von Lacaton & Vasalle Architectes etwa in Bordeaux zeigen, dass man über die Ausweisung von zusätzlichem Baurecht ganz gezielt bestehende Gebäude verbessern kann. Es müssen doch alle etwas davon haben. Wenn nur ein paar tolle neue Häuser zwischen den Bestand gebaut werden und der Rest so bleibt, kann das auf Dauer nicht gut gehen.

Könnten Sie sich vorstellen, in Neuperlach zu wohnen?
Absolut! Da gibt es doch wahnsinnig gute Wohnlagen, und ich spreche jetzt noch gar nicht von den hohen Häusern mit Sicht auf die Berge.

Wo sind die schönsten Ecken?
Die gibt es gerade im Zentrum mit den hohen Häusern. Wir erleben momentan eine generelle Umwertung des Wohnhochhauses. In Neuperlach geschieht das schon seit 50 Jahren. Natürlich hat jedes Hochhaus ein Erdgeschoss, das kann man relativ leicht aufwerten. Von der ersten bis etwa zur fünften Etage wird es schon schwieriger, die Wohnbereiche so attraktiv zu gestalten, dass sie mit den oberen Stockwerken mithalten können.

Was wird man in 50 Jahren über Neuperlach sagen?
Schauen wir doch mal an Stellen in München, die vor hundert Jahre bebaut wurden. Das sind gut akzeptierte, eingewachsene Quartiere, in denen eine hohe Wohnzufriedenheit herrscht und die entsprechend gepflegt und instandgehalten werden können.

Halten die Häuser in Neuperlach denn so lange durch?
Als die Maxvorstadt entstand, hieß es, die Bausubstanz sei ganz schlecht, weil man billig und viel zu schnell gebaut hätte. Es gibt aber keine per se schlechte Bausubstanz, sondern nur mehr oder weniger geeignete Bausubstanz, die mehr oder weniger Ertüchtigung braucht. Die Möglichkeit, abzureißen und etwas vermeintlich Besseres hinzubauen, können Sie vergessen. Diese Option gibt es nicht.


"Neuperlach ist schön", Andreas Hild, Andreas Müsseler (Hrsg.), 700 Seiten, Franz Schiermeier Verlag München, bis 19. Mai 44 Euro, www.neuperlachistschoen.de

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