Sexueller Missbrauch: "Man darf die Buben einfach nicht vergessen"

Im „Sub“ gibt es am Dienstag einen Vortrag über „Sexualisierte Gewalt an Männern. Beratungsstellen-Mitarbeiter Peter Mosser spricht darüber, wieso eine Aufarbeitung für Buben und Männer schwieriger ist.
AZ: Herr Mosser, unterschätzen wir das Problem, dass auch Buben und Männer sexuell missbraucht werden?
PETER MOSSER: Ich glaube, seit 2010 nicht mehr so sehr. Da gab es ja die promimenten Missbrauchs-Aufdeckungen im Canisius-Kolleg, dem Kloster Ettal, der Odenwaldschule. Wir sehen schon, dass das was verändert hat.
Woran merken Sie das?
Kurzfristig kamen sehr viel mehr Leute zu uns. Es fragen mehr Fachleute und Einrichtungen bei uns Fortbildungen an. Und wenn ein Junge auffällig wird, kommen die viel eher auf die Idee, dass er von sexuellem Missbrauch betroffen sein könnte. Auch Eltern sind sensibilisierter für Anzeichen. Und es nehmen sich mehr Forscher des Themas an.
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Es stimmt aber, dass Mädchen zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind, oder?
Das ist so. Aber die Dunkelziffer dürfte bei Buben noch etwas höher sein. Man darf die Buben einfach nicht vergessen.
Tun wir das?
Nicht so oft wie früher. Da kamen Jungs zu uns, die sagten: „Das passiert doch nur Mädchen“. Obwohl die selber betroffen waren! Wer zu uns kommt, hat selbst nicht begriffen, was passiert ist. Kein Junge kommt freiwillig. Die wurden alle von jemandem geschickt. Das ist bei Mädchen anders.
Wie viele Betroffene kommen?
Pro Jahr haben wir etwa 400 Fälle, 80 bis 100 pro Jahr sehen wir persönlich. Das ist nur die Spitze vom Eisberg: Man sagt, dass fünf bis zehn Prozent der männlichen Bevölkerung von Missbrauch betroffen ist.
Manche Studien sprechen sogar von 20 bis 30 Prozent.
Man kann den Begriff „Missbrauch“ ja unterschiedlich definieren. Das Spektrum beginnt bei Übergriffen ohne Körperkontakt, wie Fotografieren ohne Erlaubnis, sexualisierter Sprache, Zeigen von Pornovideos. Und es geht bis hin zu Küssen, Genitalmanipulation und Eindringen in den Körper. Da ist es dann mit konkreten Zahlen sehr schwierig.
Wer kommt zu Ihnen?
Wir sind zuständig für das Alter von 0 bis 27 Jahren. Zu tun haben wir schon mit ganz kleinen Kindern ab 4, bis zu jungen Erwachsenen.
In einer Studie gaben 95 Prozent der jungen Männer an, sich nach dem Missbrauch „wenig“ oder „gar nicht“ belastet zu fühlen. Bei den Frauen gaben 45 Prozent „sehr“ an. Verdrängen die Männer?
Verdrängen ist ein kompliziertes Wort. Aber diese Antworten sind eine Umdeutung. Der Versuch, das Erlebte anders zu bewerten. Das funktioniert eine Zeit lang, aber es ist anstrengend auf Dauer.
Wie sieht „Umdeutung“ aus?
Der Jugendliche fängt an, das Erlebte anders abzuspeichern. Zu relativieren. Sich zu fragen, ob er nicht auch irgendwie freiwillig mitgemacht hat. Viele entwickeln dazu Verhaltensmuster, die langfristig schadhaft sind: sozialer Rückzug, mal zwei, drei Bier zu trinken und dann immer mehr. Wir haben das öfter, dass junge Männer mit 19, 20 eine Suchtproblematik entwickeln, soziale Probleme, Schwierigkeiten mit ihrer Geschlechteridentität, Unsicherheit im Bezug auf ihre Sexualität, depressive Ansätze.
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Es gibt Zahlen zur Selbstmordrate missbrauchter Jungen.
Man muss vorsichtig sein. Es klingt beeindruckend: 55 Prozent der missbrauchten Buben berichteten von Suizidversuchen. Das Risiko, dass sie einen Selbstmordversuch begehen, ist 15 mal höher, als bei nicht missbrauchten. Das ist aber nur eine Studie. Es ist wichtig, zu zeigen: Es ist ein großer psychologischer Aufwand, diese Erlebnisse mit sich alleine auszumachen. Männlichkeit und Hilfe suchen: Das passt nicht so gut.
Welche Rolle spielen die Eltern?
Eine große! Die Möglichkeiten, sexuellen Missbrauch zu verarbeiten, hängt stark davon ab, wie sich die Eltern verhalten. In die Beratung kommen meist Eltern, die sich darum bemühen, dass ihr Kind Hilfe bekommt. Aber viele bagatellisieren. „Du wirst schon drüber hinwegkommen“ oder „Das wird nicht so schlimm gewesen sein, er zeigt ja keine Symptome“. Es ist schwieriger, Missbrauch zu bagatellisieren, wenn ein Mädchen betroffen ist. Das sind einfach andere Geschlechterbilder.
Bei Übergriffen auf Frauen kommen Täter oft aus der Familie und dem Freundeskreis.
Es gibt einen Unterschied: Bei Mädchen stammen die Täter am allerhäufigsten aus dem Familienumfeld. Bei Buben ist das auch sehr oft, aber noch stärker werden sie im institutionellen Kontext misshandelt.
Institutioneller Kontext heißt: Sportverein oder Kirche?
Da gehört alles dazu: von Schule, Heim, Freizeitorganisationen, Sportverein bis Kirche. Das Jahr 2010 war aber nicht repräsentativ mit den vielen kirchlichen und Elite-Einrichtungen für Jungs, in denen Missbrauch öffentlich wurde.
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Wie oft sind Frauen die Täter?
Von der Gesamtzahl der Täter sind statistisch zehn bis 15 Prozent weiblich. Die Dunkelziffer ist natürlich größer. Das sind durchaus Mütter, Großmütter, Pflegemütter – diese Fälle haben wir auch in der Beratungsstelle. Da kommt dann noch mal stärker die Frage: Warum hat man sich nicht gewehrt?
Vortrag „Sexualisierte Gewalt an Männern“ im Sub, 19.30 Uhr. Müllerstraße 14. Eintritt frei.