Report: So leben Demenzkranke

In einem Seniorenheim in Ramersdorf leben Menschen mit einer Demenzerkrankung  in „drei Welten“.  Die AZ ist zu Besuch.
Julia Lenders |
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Die 86-jährige Gisela Petrus schaut mit großen, traurigen Augen in den Raum. Ihre Mimik ist wie eingefroren.
Loeper 2 Die 86-jährige Gisela Petrus schaut mit großen, traurigen Augen in den Raum. Ihre Mimik ist wie eingefroren.
Erst als eine Roboter-Robbe vor ihr auf dem Tisch sitzt, werden die Gesichtszüge der Seniorin weicher.
Loeper 2 Erst als eine Roboter-Robbe vor ihr auf dem Tisch sitzt, werden die Gesichtszüge der Seniorin weicher.

In einem Seniorenheim in Ramersdorf leben Menschen mit einer Demenzerkrankung  in „drei Welten“.  Die AZ ist zu Besuch.

München - Die 84-Jährige mit den unbezähmbaren, schlohweißen Haaren sitzt vor einer Frühstücks-Semmel. „Mein Name ist Wolf, wie der böse Wolf. Und Maria, wie die heilige Mutter. Aber das bin ich nicht“, schäkert sie, als sie sich vorstellt.

Ein Pfleger fragt sie im Vorbeigehen, ob sie denn gut geschlafen habe. „Nein, überhaupt nicht“, antwortet Frau Wolf geradeaus. Neben ihr am Tisch verdöst eine Mitbewohnerin gerade den Morgen ihres 87. Geburtstages.

Die beiden Frauen leiden an Demenz. Jener Krankheit, die immer mehr alten Menschen zum Schicksal wird. Im Sozialreferat wird die Zahl der betroffenen Münchner auf rund 22000 geschätzt. Für sie gab es zuletzt 1023 spezifische Pflege-Plätze. Bundesweit sind 1,4 Millionen Menschen betroffen. Im Jahr 2050 sollen es, weil wir alle immer älter werden, schon drei Millionen sein.

Frau Wolf lebt mit 44 anderen Demenzkranken in einem speziellen Wohnbereich des Münchenstift-Hauses St. Maria Ramersdorf. Hier wird nach dem so genannten Drei-Welten-Modell gepflegt. Wohnbereichsleiter Filip Stanic erklärt: „Man geht davon aus, dass die Menschen im Verlauf ihrer Demenz drei Lebenswelten durchleben – mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Betreuungsbedarf.“

Maria Wolf und 22 andere Senioren sind in der „ersten Welt“ beheimatet. Ihre Demenz ist leicht bis mittelschwer ausgeprägt. Die „Welt der kognitiven Erfolglosigkeit“ wird diese erste Krankheits-Phase genannt. Weil die Betroffenen feststellen müssen, was sie alles nicht mehr können, weil sie zunehmend desorientiert sind.

Da ist zum Beispiel die Iranerin, die partout immer dieselbe Kleidung tragen will. Da ist diese Frau, die in sich versunken im Gemeinschaftsraum sitzt, den Kopf in die Hände gestützt.

Demenz ist nicht heilbar. Der Verlauf kann zwar verlangsamt werden. Aber der Weg ist vorgezeichnet. Was Maria Wolf und ihren Leidensgenossen bevorstehen könnte, ist eine Wohngruppe weiter zu sehen, in der zweiten Welt. Zwölf Bewohner leben hier. In diesem Stadium der Krankheit haben die Betroffenen eine große Unruhe in sich, scheinbar ziellos gehen sie herum.

Hausleiter Patrick Stepper sagt: „Sie merken nicht mehr, dass es ihnen weh tut, so weit zu laufen.“ Nachts sind mitunter zehn Menschen auf den Fluren unterwegs. Oft landen sie in einem fremden Zimmer, räumen die Schränke ihrer Mitbewohner aus, legen sich ins falsche Bett. Nicht tragisch, es geht ja fast allen hier so.

Die Demenzkranken sollen in dem Haus in Ramersdorf die Freiheit haben, ihren Bewegungsdrang auszuleben. Eine geschlossene Station ist der Drei-Welten-Wohnbereich ohnehin nicht. Die Tür zum Treppenhaus ist nicht versperrt. Allerdings: Sie ist mit einer Tapete beklebt, die ein Bücherregal zeigt. Das reicht, um viele Demenzkranke zu überzeugen: Sie können nicht durch.

Eine große Wanderin ist zum Beispiel Frieda Schäffler, 93 Jahre alt. Mit Trippelschritten zieht sie sich im Rollstuhl durch die Gänge, fragt Menschen, die ihr begegnen: „Wie komm’ ich nach München?“ Wenn man dann wissen will, wo genau sie hinmöchte, kommt „Schwabing, Hauptstraße“ zur Antwort. So heißt keine Straße in München.

Frieda Schäffler trägt ihre Handtasche wie ein Lätzchen um den Hals. So und nicht anders will sie es. Früher, da war sie Schneiderin und unterrichtete als Lehrerin an einer Bekleidungs-Akademie. Jetzt liegt die Seniorin in der dritten Welt auf dem Sofa und erholt sich vom Frühstück. Hier in der „Pflegeoase“ schaffen Düfte, Lichteffekte und Musik eine besondere Atmosphäre. Doch selbst Mozart kann Frieda Schäffler im Moment nicht trösten.

„Wie geht es Ihnen?“, fragt Filip Stanic und hält ihre Hand. Sie: „Ich möchte sterben.“ Er: „Bitte nicht.“ Sie: „Warum nicht?“ Er: „Wir können auf Sie nicht verzichten.“ Solche Stimmungstiefs kehrten bei ihr immer wieder, berichtet Stanic.

Er prophezeit aber auch: In einer halben Stunde werde Frau Schäffler wieder auf Wanderschaft sein und im Gang fragen: „Wie komm’ ich nach München?“

Die Geräuschkulisse in der dritten Welt ist eine andere: Manche Bewohner wiederholen ständig „Mama“, „Hallo“ oder nur „Babababa“.

Lotte Selhorst sitzt fein herausgeputzt an einem Tisch. Die 86-Jährige legt Wert auf schöne Kleidung, schließlich war sie früher einmal Chefsekretärin. Sie redet nicht. Sie lacht. In einem fort.

Dagegen starrt ihre gleichaltrige Tischnachbarin Gisela Petrus mit großen, traurigen Augen in den Raum. Früher, da lebte sie mit ihren zwei Schwestern in Amerika. Heute kann sie die Frage, wie viele Schwestern sie hat, nicht beantworten. Ihr Blick wird hektisch. Ihr Mund bleibt stumm.

Sanfter werden ihre Gesichtszüge erst, als Gisela Petrus einen Robben-Roboter vor sich hingesetzt bekommt. Er reagiert auf Streicheln, klimpert mit den Wimpern und stößt Robben-Töne aus. 5000 Euro kostet diese in Japan entwickelte Puppe. „Wir nennen sie Barbara“, erzählt Stanic.

Ein großes Thema hier: Angst. Schlimm, miterleben zu müssen, dass man sich auf seinen Kopf nicht mehr verlassen kann. Wenn es zum Beispiel beim Uhren-Zeichen-Test, der oft der Diagnose dient, nicht mehr gelingt, einen Kreis zu malen. Geschweige denn, die Zeiger richtig anzuordnen.

Kann man es den Erkrankten leichter machen? Hausleiter Stepper sagt: „Menschen mit Ängsten hilft die Gemeinschaft – mal in den Arm genommen zu werden von der Pflegekraft.“ Wer hier arbeitet, darf Körperlichkeit nicht scheuen: Schmusen gehört zum Programm. Genau wie Gedächtnistraining, Gymnastik und Gespräche über die Biografie der Bewohner.

Ängste haben natürlich auch die Angehörigen. Patrick Stepper sagt: „Schwierig ist immer der Umzug in eine andere Welt.“ Für die Familien sei es oft schwer zu akzeptieren, „dass jemand so weit ist“.

Bis zum Schluss, bis zu ihrem Tod, können die Demenzkranken in ihrer Gruppe bleiben. Wenn es sie ruhiger macht, dann dürfen sie auch im Gemeinschaftsraum sterben. Die anderen Bewohner der dritten Welt störten sich nicht daran, sagt Filip Stanic. „Viele nehmen das kaum wahr.“ Der Tod gehöre dazu, sagt auch Hausleiter Stepper. „Aber davor ist immer noch sehr viel Leben bei uns.“

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