Fünf Jahre lang: Im Ehebett mit einer Toten
Blumenau - Es ist ein sauberes, gepflegtes Haus. Nichts liegt herum, die Fenster und langen Flure sind geputzt, die Briefkästen poliert. Im Erdgeschoss, gleich neben der Eingangstür, hängt eine vierseitige Hausordnung in einem Glaskasten: „Vollbäder sollen aus Lärmgründen nicht vor 6.30 Uhr und nicht nach 22 Uhr genommen werden“, steht darin. Kinder dürfen nicht auf Treppen, Fluren und im Keller spielen. Und das Abstellen von Gegenständen ist nicht gestattet.
In dem achtstöckigen Haus in der Terofalstraße in der Blumenau, in dem insgesamt 54 Parteien wohnen, hat alles seine Ordnung. Die Nachbarn wissen voneinander und kümmern sich auch, wenn jemand Hilfe braucht. Trotzdem war es möglich, dass hier eine psychisch kranke Frau fünf Jahre lang mit ihrer toten Mutter zusammenlebte. Sie schlief sogar neben der Toten im Ehebett.
Als man sie vergangenen Donnerstag schließlich entdeckte, war die Tote völlig mumifiziert. Anfang März 2009 soll sie gestorben sein, mit 77 Jahren. Einen Hinweis auf ein Verbrechen oder einen Suizid gibt es laut Polizei nicht.
Dass etwas nicht stimmte bei Inge L. und ihrer Tochter Kathrin (55, alle Namen geändert), war vielen Nachbarn klar. Und auch dieser furchtbare Gestank, der sich im Treppenhaus ausbreitete, konnte nicht unbemerkt bleiben. Trotzdem blieb das Unfassbare jahrelang unentdeckt. „Man kann sich ja so etwas Gruseliges gar nicht vorstellen. Auf die Idee kommt man gar nicht“, sagt die Nachbarin, die direkt über der Wohnung von Inge und Kathrin L. im zweiten Stock wohnt. Maria F. ist erschüttert, sie hat Tränen in den Augen. „Das ist dramatisch hoch drei.“
Ja, es habe gestunken. „Manchmal, wenn ich im Bad war, kam es durch den Lüftungsschacht nach oben. Das roch unangenehm“, erzählt Maria F. Aber letztlich war es ja nicht verwunderlich, dass es in der Wohnung roch. „Die Tochter hat immer den selben Hosenanzug getragen, Jahr um Jahr. Sie hat sich wohl nicht gewaschen. Wenn sie vorbeiging, haben alle die Nase gerümpft“, erzählt eine Nachbarin aus dem Erdgeschoss. Maria F. ergänzt: „Ich habe oft nachgeschaut, die Fenster und die Balkontür waren immer zu!“
Nachbarn, die auf der selben Etage wohnen, hatten sich bei der Hausverwaltung über den Geruch beschwert. Doch Kathrin L. ließ niemanden in die Wohnung – keinen Besuch, keinen Heizungsableser, nicht einmal ihren geschiedenen Mann. Wenn überhaupt, öffnete die Frau, die krankheitsbedingt Frührentnerin wurde, die Wohnungstür nur einen Spalt breit. Zum Beispiel, wenn ihr Ex-Mann ihr Geld in einem Briefumschlag vorbeibrachte.
„Was hätten wir tun sollen?“, fragt Maria F. Immer wieder habe sie an der Tür der beiden Frauen geklopft und wenn sie Kathrin L. im Treppenhaus sah, habe sie gefragt, ob sie etwas helfen könne. Doch die habe immer abgelehnt. Wenn die Nachbarin fragte, wie es ihrer Mutter ginge, habe Kathrin L. stets geantwortet: „Passt scho.“
Einmal habe sie sich umgedreht und gesagt: „Früher war’s noch schön!“ Da habe es ihr fast das Herz zerrissen. „Sie hat mir so leidgetan. Wie hätte ich ihr da die Polizei auf den Hals hetzen können?“
Inge L. gehörte zu den ersten Mieterinnen in dem 1966 fertiggestellten Haus – genau wie Maria F. „Ich habe Kathrin aufwachsen sehen. Sie war ein süßes Mädchen. Ihrer Mutter ging es damals schon phasenweise sehr schlecht. Sie war schwerst depressiv.“ Irgendwann starb ihr Ehemann, der bei der Stadt gearbeitet haben soll. Tochter Kathrin zog aus und heiratete. Doch ihre Ehe und auch eine zweite Ehe gingen in die Brüche. Kinder hat Kathrin L. keine.
Vor etwa zehn Jahren kam die Tochter regelmäßig vorbei, um nach ihrer kranken Mutter zu sehen. „Ich dachte noch, wie nett, dass sich die Tochter kümmert“, erzählt Maria F. Damals sei die Mutter bereits ein Pflegefall gewesen. Ans Telefon ging sie längst nicht mehr. Die Nachbarn hörten, wie es immer ins Leere klingelt.
Irgendwann zog Kathrin L. ganz in die 70 Quadratmeter große Eigentumswohnung zur Mutter. Auch sie litt unter massiven psychischen Problemen. Zuletzt sahen die Nachbarn sie nur noch ab und zu, wenn sie morgens um 7.30 Uhr in ihrem grauen Hosenanzug zum Einkaufen ging.
Am Donnerstag vergangener Woche klingelte ein Sozialarbeiter vom Sozialbürgerhaus an der Tür von Inge und Kathrin L. Laut Polizei hatte er immer wieder versucht, Kontakt zur Mutter zu bekommen. Aber die Tochter habe ihn jedes Mal vertröstet und Ausreden erfunden, warum er sie gerade nicht sprechen könne.
Als niemand öffnete, rief der Sozialarbeiter die Feuerwehr und die Polizei. Die Männer öffneten die Wohnung mit Gewalt. Als sie das Schlafzimmer betraten, fanden sie dort die mumifizierte Leiche von Inge L.
Ihre Tochter wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht.
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