Bombenstimmung bei der Evakuierung

Am Donnerstagabend erfahren die Anwohner, dass sie am nächsten Morgen das Haus verlassen müssen.
von  Von Sophie Burfeind
Johann Stegmüller packt ein paar Sachen zusammen – auch für seine siebenjährige Tochter.
Johann Stegmüller packt ein paar Sachen zusammen – auch für seine siebenjährige Tochter.

Morgens um sieben, als viele hier noch ihre Koffer packen, läuft eine Frau mit Rollkoffer an den Absperrungen entlang und bleibt vor einem roten BMW stehen, Kennzeichen: M 112, Feuerwehr. "Sind hier Dreharbeiten?", fragt sie den Mann mit Warnweste. "Nein, das hier ist das echte Leben", antwortet er.

Was er damit meint: Hier in Freimann ist gerade eine Art Ausnahmezustand ausgerufen worden. Noch eine Stunde, dann müssen die Straßen um den Zwergackerweg geräumt sein. 100 Meter Radius, 200 Menschen, der Grund: Sprengstoff.

Eine Grube voll mit Minen und Granaten, Artillerie- und Infanteriemunition aus dem Zweiten Weltkrieg, fünf bis zehn Tonnen, fast alle mit Zünder. Vor ein paar Monaten wurde sie auf dem Grundstück der Familie Meinberger, Zwergackerweg 3, entdeckt. Bis Mai sollte all das entschärft und entsorgt sein. So war der Plan.

Bis Donnerstag: Da stellte der Sprengmeister fest, dass Chemikalien ausgelaufen waren. Phosphor zum Beispiel, der sich an der Luft selbst entzündet. Der Sprengmeister deckte die Grube mit Sand zu, den Abend über klingelten Polizisten und Feuerwehrmänner bei den Anwohnern: "Sie müssen Ihr Haus verlassen, bis morgen, 8 Uhr."

Johann Stegmüller packt ein paar Sachen zusammen – auch für seine siebenjährige Tochter.
Johann Stegmüller packt ein paar Sachen zusammen – auch für seine siebenjährige Tochter.

Johann Stegmüller packt ein paar Sachen zusammen – auch für seine siebenjährige Tochter. Foto: Petra Schramek

Zehn Tage dürfen die Bewohner nicht zurück in ihre Häuser

7.30 Uhr, Johann Stegmüller lädt gerade den Kofferraum seines Kombis voll, Kisten mit Dinkelkeksen, Getränken, Nudeln. Der weiße Teddy der Tochter, sieben Jahre, sitzt schon im Auto. "Der muss ja mit evakuiert werden." Wie alle hier, hat ihn die Nachricht überrumpelt. Am nächsten Morgen müsse man weg sein – für zehn Tage, wenn es gut läuft. Wenn es nicht gut läuft, für länger. Wo es hingeht? Zu Bekannten, sagt Stegmüller.

Ein Haus weiter fährt ein kleiner Junge mit Batman-Umhang die Straße auf und ab, noch zehn Minuten. Die Mutter steht in der Garage und lädt Kisten ins Auto: "Wir vier kommen in einem Pfarrheim unter, das war spontan möglich."

Man hört das von vielen hier: Dass sie bei Verwandten oder Bekannten unterkommen, manche ziehen in eines der Hotels, das die Stadt zahlt. Wer ein Hotel braucht, muss zum Willi-Graf-Gymnasium am Scheidplatz fahren, dort ist die Anlaufstelle. Für die ohne Auto fahren Busse. Um neun Uhr haben sie am Scheidplatz schon 40 Doppelzimmer vergeben.

Ein Hotelzimmer, schön und gut. Nur wohin zum Beispiel mit den Haustieren? Das ist eine Frage, die viele beschäftigt. Klar, das Tierheim würde sie aufzunehmen. Aber wer gibt seinen Hund schon gerne im Tierheim ab?

Tobias Ruff, 40, ist da im Vorteil: Er hat Hühner. Die müssen nicht evakuiert werden.

Ursula Rudolf hat ihre beiden Hunde in den Kofferraum gepackt. Auch die Vierbeiner dürfen nicht in der Sperrzone bleiben.
Ursula Rudolf hat ihre beiden Hunde in den Kofferraum gepackt. Auch die Vierbeiner dürfen nicht in der Sperrzone bleiben.

Ursula Rudolf hat ihre beiden Hunde in den Kofferraum gepackt. Auch die Vierbeiner dürfen nicht in der Sperrzone bleiben. Foto: Petra Schramek

Ein Paradies für Einbrecher?

Um Punkt 8 Uhr beginnen Polizisten zu kontrollieren, ob die Anwohner ihre Wohnungen verlassen haben. Sie gehen von Haus zu Haus, Straße für Straße. Um Viertel nach 8 kommt eine Frau nach Hause, will ihr Gartentor aufschließen. Ein Polizist sagt: Sie müssen jetzt fahren. Jetzt?, fragt die Frau. Ja, jetzt. Wir warten hier auf Sie. Heruntergelassene Rolläden, menschenleere Straßen, es sieht immer einsam aus hier am Kieferngarten.

Das mit der Einsamkeit finden manche Anwohner nicht so gut: Leere Häuser, niemand da, besser gehe das ja nicht für Einbrecher.

Mittags um 12 Uhr sitzen ein paar der Evakuierten in der Lounge von Harry's Home Hotel. Ein grauer Klotz am Bahnhof Moosach, hellgrüne Sofas, hellgrünes Licht, dazwischen die Koffer. Draußen scheint die Sonne, die Stimmung drinnen ist alles andere als sonnig. "Wir sind nicht richtig informiert worden!", klagen sie. Erst am Freitagmorgen habe ein Schreiben im Briefkasten gelegen mit dem Grund für die Evakuierung. Acht Seiten Amtsdeutsch. Die meisten haben es nicht mehr gesehen. "Wer guckt schon in den Briefkasten, wenn er plötzlich das Haus verlassen soll?"

Draußen steht eine Frau und raucht. "Ist doch scheiße!", ruft sie. "Warum haben die das Zeug nicht einfach in der Erde gelassen?"

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