Spiel ohne Damen: AZ-Besuch am Schachplatz an der Münchner Freiheit
München - Beide Damen sind schon raus, als die Besserwisser auf den Bänken in Fahrt kommen. Die Schwarze steht geschlagen drüben beim Vito am Schachfeldrand. Die Weiße hat Herr Müller seinem Gegner abgenommen. Vito muss schwer nachdenken.
Freiluft-Schach unter Platanen
"Ja greif an jetzt", treibt der Walter an. "Ah geh, des is eine schwere Stellung", bremst der Heino unter seiner Häkelmütze ein, und von gegenüber grantelt der Fawad, eine Mineralwasserflasche im Arm, "naa, nix Blödes machen".
So klingt das an der Münchner Freiheit, wenn sie mittags gegen eins zum Freiluft-Schach eintrudeln unter den Platanen, schräg gegenüber vom Café Münchner Freiheit: der Pensionär Herr Müller (64), der mazedonische Handwerker Vito (76) und Heino (72), der mal ein kleines Baugeschäft hatte.

Dann ist da noch der Walter, den sie hier "den berühmtesten Obdachlosen Münchens" nennen, obwohl er gar nicht mehr obdachlos ist. Uli, der Industriedesigner im Ruhestand. Und Koch Fawad, der so charmant pakistanisches Bairisch spricht, dass einem ganz warm ums Herz wird.
"Da werd er ganz nervös, wenns anruft", witzelt Fawad
20, 30, auch 40 Jahre schon kommen die Spieler aus allen Vierteln Münchens je nach Wetter her, um jedes Mal aufs Neue auszuspielen, wer der bessere Schachmeister ist. Mittags die kleine Rentnerrunde, später stoßen die dazu, die noch im Job sind.
Nur Damen sind selten zu sehen, abgesehen von der, die allwöchentlich ihren Gatten vom Schachbrett wegholt, weil er sich so schlecht losreißen kann, "da werd er ganz nervös, wenns anruft", witzelt Fawad.

Immer drei Züge vorausdenken
Inzwischen hat Vito nun doch angegriffen, mit einem beherzten Vormarsch eines Bauern. Herr Müller zupft an seinem Schal, man kann seinem Hirnkastl beim Nachdenken zuschauen. Immer drei Züge vorausdenken, sagt er, und er muss es wissen.
Herr Müller ist Vereinsspieler, einer von den guten, der sonst Mannschaftskämpfe spielt, aber seit Corona geht das ja nicht mehr, also ist er hier, wieder mal.
Hier kommen alle zusammen
Was macht den Ort so magisch, dass man so schwer weg- und immer wieder herkommt, zu immer denselben Leuten? Die Menschen natürlich, sagt der Heino. Die Geselligkeit, sagt Herr Müller, "bevor ich Serien schau, spiel ich doch lieber Schach".

Dass hier jeder mit jedem spielt, sagt der Uli, "schauns doch mal: der Professordoktordoktor mit dem Möbelpacker, der Ex-Unternehmer mit dem Künstler. Der Hongkongchinese mit dem Argentinier." Servus Hermann, sagt er nebenbei und alle Arme gehen hoch, Griaß di Anton, ach, der Ming, bist du aa scho da?
Das habe sogar ein Sozialwissenschaftsstudent vor ein paar Jahren in seine Magisterarbeit hineingeschrieben: dass Schach an der Münchner Freiheit alle Gesellschaftsschichten verbindet. Einmal, erinnert sich Uli, sei ein chinesischer Tourist vorbeispaziert mit seinem achtjährigen Sohn. Der Bub habe sie alle an die Wand gespielt, da hätten sie aber geschaut, die Kollegen.
Die meisten Spieler sind unverheiratet
"Also für mich ist das eine Ersatzfamilie", sagt Fawad, der jetzt ganz nachdenklich ausschaut. Von den Männern am Platz seien nur zwei, drei verheiratet, der Rest lebe allein.
Ein bissl politisieren könne man, herumflachsen, sich verschaukeln, blöd daherreden, über Fußball streiten. Und dann vertragen sich alle wieder. "Und was soll ich bei mir in Haidhausen", erklärt Walter, "da is tote Hose, da triffst ja keinen, wegen Corona".
Der Pandemieabstand wird gewahrt
Hier trifft man immer wen, und es ist Platz genug, um locker Pandemieabstand zu halten. Gleich vier Schachfelder, jedes zweisiebzig Mal zweisiebzig Meter groß, sind mit hellen und dunklen Platten ins Pflaster eingehauen. Dazwischen Holzkisten mit Vorhängeschloss für die kniehohen Schachfiguren.
Da sitzen während der Spiele die Fachsimpler drauf. Oder wie jetzt zwei Dirndl, die Eis schlecken und ein Papa mit einem Kindergartenkind, der in seinen Burger beißt.

Heino hat inzwischen Kaffee geholt unten beim Wimmerbäcker an der U-Bahnstation, weil der Herr Müller dann doch den Vito geschlagen hat, und er jetzt gleich selber dran ist mit Spielen. Tauben tapern auf dem Platz herum. Derweil schauen drei Polizeibeamte über den Platz. Alles okay, befinden sie wohl und ziehen weiter.
Alles okay, befinden die Beamten und ziehen weiter
Nur einmal im letzten Herbst, erzählt Walter, da hätten fünf Beamte Personalien aufgenommen wegen des Infektionsschutzgesetzes, aber das seien Landshuter gewesen. "Unsere Münchner Polizisten", sagt er, "die machen das nicht". Die wüssten ja, dass sie aufpassen hier, und eh drei Meter auseinander stehen müssen, so groß wie Spielfelder sind.

Aber eins sei schon blöd in der dritten Coronawelle. Da kämen jetzt am Wochenende nachts oft fremde Randalierer daher. Schmeißen Pappbecher und Essensreste herum, mitten in der Ausgangssperre, "und mit den Schachfiguren spielen die Fußball", ärgert sich Walter, "da schaut's danach aus wie auf einer Müllhalde."
Jetzt kann nicht mehr jeder spielen
Letztens habe er in aller Früh "so einen siebten Sinn" gehabt und sei extra hergefahren aus Haidhausen, vor lauter Sorge um den Platz. "Ausgschaut hat's, schlimm." Er habe alles aufgeräumt und die Figuren, die zum Teil zerbrochen im Gebüsch gelegen sind, in den Kisten verstaut - obwohl sie sonst zwei der vier Figuren-Sets gerne ordentlich draußen stehen lassen. Damit jeder spielen kann, der mag.

Walter hat, weil's ihm gelangt hat, jetzt sogar die Zahlencodes an den Schlössern geändert. Hat ja jeder gewusst, mit welcher Ziffernfolge die Holzkisten aufgehen. Bis zu den nächtlichen Idioten hat sich das herumgesprochen.
Provisorische Verarztung der Figuren
Am nächsten Tag habe der Vito dann die kaputten Schachfiguren in den 54er Bus gepackt und daheim am Ostbahnhof auf die Werkbank gelegt. Zwei weiße Springer, einen schwarzen König und noch ein paar andere. Laubsäge, Sperrholzplatte, Leim, ein paar Schrauben. Nicht schön, aber spielbar sind sie jetzt wieder.
Längst ist später Nachmittag, Vito muss nach Hause, Medikamente nehmen. Auch der Herr Müller wird bald gehen, der Uli, der Heino und der Fawad.
Am Abend spätestens werden die Schachfiguren wieder ordentlich aufgeräumt sein. Hoffentlich ramponiert sie keiner über Nacht, damit mittags um eins, wenn wieder alle eintrudeln, das Spiel von vorne anfangen kann.
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