Sommer vor 70 Jahren - Wieningers Wohlfahrtswerk

Kaum san die Nazi weg, gangerten die Tänz scho wieder o. Fallt mir nicht ein, dass i aus meinem halbert zerstörten Betrieb ein Obdachlosenasyl machen laß.“
So grantelt einer der 140 Gastwirte, die Karl Wieninger, Leiter der „Münchner Nothilfe“, ab August 1945 aufsucht, um Räumlichkeiten zu finden, die sich als Wärmestuben eignen könnten. Beizeiten nämlich ist für einen kalten Winter vorzusorgen.
Aus dem fernen Ruhrgebiet in der britischen Besatzungszone sind kaum größere Kohlelieferungen zu erwarten. Unzählige Fenster sind in der ganzen Stadt kaputt und notdürftig verkleidet – bei vielen schaut ein Ofenrohr heraus.
Karl Wieninger ist ein Mann der ersten Stunde – und trotz seiner 70 Jahre immer noch ein Mann voller Tatkraft und Ideen. Der Sendlinger Handwerkersohn war aktiv im Widerstand gegen die verhassten Nazis, zuletzt noch bei der Freiheitsaktion Bayern. Ohne ihn wäre die Münchner Nachkriegsgeschichte unvollständig. Seine privaten Projekte werden von drei berufsmäßigen Stadträten unterstützt: Anton Fingerle (Schule), Hans Ludwig Held (Kultur) und Erwin Hamm, dem späteren Ehemann der FDP-Stadträtin Hildegard Brücher (Soziales).
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Mit einem Dreirad, für das er sich mühsam etwas Benzin besorgt hat, klappert Wieninger also die Wirtshäuser ab. Schließlich macht er, gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilt, 72 Lokale aus, wo sich Rentner, wohnungs- oder mittellose Münchner und Zuwanderer im bevorstehenden Winter nicht nur aufhalten, sondern auch unterhalten und kommunizieren können. Auch der Wirt, der keine Obdachlosen aufnehmen wollte, lässt sich schließlich umstimmen. Geboten werden warme Mahlzeiten und sogar Volksmusik.
Zu einer „Holzaktion“ kann der zweite Bürgermeister Thomas Wimmer erst im Dezember aufrufen, nachdem die Amis 200 Armeelastwagen samt Treibstoff zur Verfügung gestellt haben. Da wird nun allerdings allerhand Brennmaterial eingeschlagen in stadtnahen Wäldern, das Wort Umweltschutz ist noch unbekannt. Gottlob wollen aber auch die Kumpels der kleinen oberbayerischen Kohlegruben Sonderschichten fahren, um der Landeshauptstadt eine Kälte-Katastrophe zu ersparen. (Die kommt tatsächlich, wenn auch erst im Winter 1946/47). Zum Winter 1950 werden bereits 50 solcher Wärmestuben den Armen und Obdachlosen offenstehen und Kohle sparen.
Wieningers „Nothilfe“ greift auch ein, um vielen Münchnern in Wohnraum- und ähnlichen Fragen beizustehen oder um Geld, Altkleider und Haushaltsgeschirr für Ausgebombte und Flüchtlinge zu sammeln. Das alles geschieht in aller Stille neben der Arbeit der traditionellen Wohlfahrtsorganisationen und jenseits behördlicher Normen. Wieninger muss deshalb manchen Kampf mit der Besatzungsmacht ausfechten, doch auch dort wie überall findet er Mithelfer.
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Im Sommer 1945 nimmt Karl Wieninger an Gesprächen über die Gründung einer neuen Partei teil. Sie soll nach der ehemaligen Bayerischen Volkspartei benannt werden, Wieninger und andere finden dann aber den Namen Christlich-Soziale Union angemessener, wobei sie auf das C besonderen Wert legen. Von 1946 bis 1952 sitzt Wieninger für die CSU im Stadtrat und von 1953 bis 1969 im Bundestag, wo er sich als Vorsitzender des Mittelstands-Ausschusses besonders für die kleinen, von Konzernen bedrohten Einzelhändler einsetzt; Bundespräsident Lübke weigert sich jedoch, ein entsprechendes Gesetz zu unterzeichnen.
1981 porträtiert er auf 400 Buchseiten noch die Lebensbilder von 74 „bayerischen Gestalten“, vom Handwerker und Staatskanzler Johannes Adlzreiter bis Karl Valentin. Erst viele Jahre nach dem Tod des hoch verdienten und hoch betagten Mitbürgers am 2. August 1999 findet sich die Stadt München bereit, einen schmalen Übergang über die Autobahn draußen in Fürstenried auf den Namen Karl-Wieninger-Weg zu taufen...
Erinnerungen von Zeitzeugen
Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet in der AZ- Serie „Harte Jahre“ der Münchner Journalist und Autor Karl Stankiewitz (86), ein echter Zeitzeuge und AZ-Mitarbeiter seit 1948. Nur nebenbei: Er ist damit der älteste noch aktive Lokal-Journalist von ganz Deutschland.
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