Sommer vor 70 Jahren - Die Stadt wird geschlossen
Es ist der 9. August 1945. Auf seiner zweiten Sitzung trifft der neue Stadtrat seine erste, einschneidende Entscheidung: Ab sofort ist der Zuzug nach München für alle Personen gestoppt. Die kaputte Stadt hat keinen Platz, menschenwürdige Wohnungen sind äußerst rar. Nur schrittweise soll den im Bombenkrieg evakuierten Münchnerinnen und Münchnern die Rückkehr genehmigt werden. Personen, die gegen diese Restriktionen verstoßen, droht der Entzug der ohnedies kargen Lebensmittelkarten (auch die 6500 Tonnen Kartoffeln, die im Juli nach München geliefert wurden, können den Hunger kaum stillen). Heimkommen dürfen vorerst nur bestimmte Gruppe von Bürgern mit früherem Wohnsitz in München, sie kommen aus dem KZ Mauthausen oder es handelt sich um auswärts eingesetzte Zwangsarbeiter.
Die KZ-Heimkehrer begrüßt Scharnagl im heil gebliebenen Prinzregententheater. Speziell für die Münchner Opfer – ihre sterblichen Überreste bergen 4111 Urnen – hält er am Ostfriedhof eine Trauerrede. Aus der Kriegsgefangenschaft entlassene Mitbürger müssen sich erst mal bei den Polizeiämtern melden. Für den Transport von Möbeln braucht man extra einen Ermächtigungsschein, für die Fortführung eines Betriebes einen Genehmigungsbescheid, der an der Ladentür anzubringen ist.
Im August 1945 ist noch eine weitere Stadtratssitzung angesetzt. Dabei wird Bilanz gezogen: zur Ernährungslage (statt der für einen ruhenden Menschen erforderlichen 1700 Kalorien bekommt der hiesige Normalverbraucher derzeit nur 1180 pro Tag) sowie zur Gesundheitslage (mehrere Typhusepidemien, Ruhr eingedämmt, Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten im Kommen). Immerhin scheint die medizinische Versorgung gewährleistet zu sein, es praktizieren 911 Ärzte. Das Schwabinger Krankenhaus mit den meisten Betten in München ist allerdings Armee-Hospital.
Größere Probleme macht noch die allgemeine Stadthygiene. Denn die Müllabfuhr ist beeinträchtigt und wegen der zerstörten Rohrleitungen versickern täglich 10 000 Kubikmeter Trinkwasser. Fortschritte macht die Schutträumung. Nachdem mithilfe eines Kleinbahnnetzes, 14 Dampfzügen, Greifbaggern und 140 Lastwagen der US-Armee 150 000 Kubikmeter Bombentrümmer entfernt wurden, will die Stadt jetzt Hausruinen beseitigen, bei denen Einsturzgefahr besteht.
An einen systematischen Wiederaufbau ist noch nicht zu denken, dazu hätte die Stadt auch kein Geld. Nur privat wird ein bisschen aufgebaut oder angebaut. So hat ein Franz Xaver Eisenreich den Park des Wittelsbacher Palais’, wo zuletzt die Gestapo gewütet hatte, zum Teil gepachtet, um es als Gemüsegarten zu nutzen. In der Baugrube für Münchens erste U-Bahn am Goetheplatz, die zuletzt als Luftschutzkeller gedient hatte, hat jemand eine Champignonplantage angelegt.
Bei der Schutträumung werden hauptsächlich deutsche Kriegsgefangene eingesetzt. Das findet der Leser Alfred Schwingenstein in einer Zuschrift an die „Bayerische Landeszeitung“, die seit kurzem von der Militärregierung herausgegeben wird, schon deshalb empörend, weil noch so viele ehemalige Funktionäre der Nazi-Partei frei durch die Stadt gingen. Schwingenstein wird bald eine Lizenz für die „Süddeutsche Zeitung“ erhalten und deren Verlagsleiter werden. Das erste deutsche Presseorgan in der amerikanischen Besatzungszone kann erst am 6. Oktober starten. Eine Probenummer erscheint aber schon am 21. August und verspricht: „Alle leitenden Kräfte der Zeitung fühlen sich im Anblick einer schrecklichen sozialen Not als Anwälte derer, die arm sind und ohne Schuld leiden müssen.“ Ein ziemlich großes Kundenpotenzial.
Als wichtigstes Informationsorgan ist Radio München bereits seit Mitte Mai auf Sendung, natürlich im Auftrag und Augenmerk der Information Control Division. In den Sender-Anlagen bei Ismaning und im Keller des alten Funkhauses arbeiten 35 Amerikaner, meist emigrierte Journalisten, und 30 einem strengen Clearing unterzogene Deutsche am technischen und organisatorischen Relaunch. Sowie an der Verbreitung von lokalen, zum Teil lebenswichtigen Bekanntmachungen und weltpolitischen Nachrichten – in diesem August 1945 explodieren in Japan, das sich immer noch im Kriegszustand befindet, die beiden ersten Atombomben.
Ein neues Zeitalter hat begonnen.
Erinnerungen von Zeitzeugen
Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet in der AZ- Serie „Harte Jahre“ der Münchner Journalist und Autor Karl Stankiewitz (86), ein echter Zeitzeuge und AZ-Mitarbeiter seit 1948. Nur nebenbei: Er ist damit der älteste noch aktive Lokal-Journalist von ganz Deutschland.
Erinnern Sie sich ebenfalls noch an die ersten Monate oder unmittelbaren Jahre nach dem Krieg? Ober besitzen Sie alte Aufzeichnungen oder Fotos? Über Zuschriften würden wir uns sehr freuen!
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