Sommer vor 70 Jahren - Signale der Mädchen

Wenn man als sogenannter Zeitzeuge versucht, sich Münchens Straßenbild und die Menschen vom Sommer 1945 ins Gedächtnis zu rufen, dann erscheinen da zunächst alte, graue Männer, viele Kinder und noch viel mehr junge Frauen. Letztere tragen meist ein buntes Kopftuch, wie Hildegard Knef in ihrem ersten Nachkriegsfilm, oder ein keckes Sommerhütchen, wie es zuletzt noch Mode war, der Trostlosigkeit im Hitlerland zum Trotz. Dem Trümmerland verleihen die Mädchen bunte Tupfer. Signale eines neuen Stadtlebens.
An Reihen von Trümmerfrauen, die sich ausgebuddelte Mauersteine zuwerfen (wie in Berlin gefilmt), kann sich der Reporter indes nicht erinnern. Wohl aber an böse, schnell beseitigte Schmierparolen an kaputten Hauswänden wie: „Schneidet ihnen die Haare ab ... den amerikanischen Prostituierte, helft alle mit!“
Seit dem 21. Juni dürfen sich Angehörige der alliierten Streitkräfte an öffentlichen Orten mit Deutschen unterhalten, „da die Austilgung des Nationalsozialismus und die Entfernung prominenter Nationalsozialisten aus verantwortlichen Stellen ... große Fortschritte macht“, so die plakatierte Übersetzung der grundsätzlich englischen Amtssprache. Das Ende der „Nonfraternisation“ wird beiderseits unverzüglich genutzt. Die Stadt ist ja plötzlich voller junger Männer. Nach Dienstschluss suchen sie nicht gerade Verbrüderung, aber Liebe – fern der Heimat, nach einem furchtbaren Kriege.
Die schmuck uniformierten Boys aus Übersee haben ihren neuen Girl Friends auch allerhand zu bieten: Etwa den Zutritt zu jazzigen Tanz-Clubs, für die eigentlich „off limits for civilians“ gilt. Und vor allem Lebensmittelpakete, die für ganze Familien reichen, und stangenweise aromatisierte Zigaretten, die sich prima für Tauschgeschäfte eignen.
Es mangelt ja noch an allem. Am 12. Juli werden gerade mal 5600 Tonnen Kartoffeln für die ausgehungerte, durch Heimkehrer, Freigelassene und Vertriebene stark vermehrte Bevölkerung geliefert, pro Kopf werden 20 Kilo zugeteilt. Und erst am 20. August gibt es für Erwachsene „beiderlei Geschlechts“, wie es ausdrücklich heißt, erstmals wieder 20 Zigaretten – pro Monat auf Lebensmittelkarten.
Mit Jeeps und Trucks kurven die jungen Soldaten durch die bald schon freigeräumten Hauptstraßen. Dort verkehren sonst nur stinkende Holzvergaser, klapprige Fahrräder und dampfende, Bombenschutt und Personen befördernde „Bockerlbahnen“, für die etwa 50 Kilometer Schienen gelegt wurden. Oft sind es Irrfahrten für die ortsunkundigen jungen Männer. Am 20. Juli will ein Lastwagen eine Trambahn überholen, stößt dabei mit einer Gegentram zusammen und wird zwischen beiden zerdrückt – 17 Verletzte. Quer über das Isartor lässt Militärkommandant Keller ein Transparent spannen mit der Aufschrift: „Drive carefully. Death is so permanent.“ (Fahrt vorsichtig, der Tod ist so dauerhaft).
Lesen Sie auch: Sommer vor 70 Jahren - Die Stadt wird geschlossen
Wo aber sind die deutschen Männer, wo sind sie geblieben? Wie viele Münchner „fürs Vaterland gefallen“ sind, kann vorerst nur geschätzt werden: rund 3000. Unzählige Verwundete liegen noch irgendwo in Lazarettbetten.
Unvergesslich: Eine Marschkolonne von einigen tausend zerlumpten, stumm stapfenden Kriegsgefangenen mit hinter dem Kopf verschränkten Händen wird von bewaffneten Siegern – im Triumph? – durch die Stadttore hinaus über die Rosenheimer Straße geführt, wird fortwährend gefilmt und schließlich in einige der 300 Barackenlager gepfercht, in denen eben noch ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene hausten.
Viele andere junge Münchner müssen in fernen Kriegsgefangenenlagern auf ihre Heimkehr warten, manche sehr lang. Schulfreund Hans Scheuchenpflug, der heute noch Klassentreffen organisiert, hat erst mal einen „Arbeitsplatz“ in Sibirien erhalten. Rudi Baumann, der als 16-jähriger Arbeitsdienstmann eben noch am Fernpass die „Alpenfestung“ verteidigen musste, vegetiert bei Heilbronn mit 200 000 Kameraden hinter Stacheldraht auf freiem Feld.
Später blickt er zurück ohne Zorn: „Eines Tages wurden wir in zwei Gruppen eingeteilt, die eine durfte heim, 50 Mann in einem Viehwaggon. Bei Fluchtversuch mit Schusswaffengebrauch gedroht.
Zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Fahrt. In München wurden wir geschlossen aufs Arbeitsamt geführt, das uns sofort entließ. Den Rest des Sommers habe ich mit Existenzsicherung verbracht.“
Jene jetzt unterrichtsfreien Gymnasiasten vom Jahrgang 1928 aber, die den „grauen Rock des Führers“ nicht mehr tragen mussten, haben sich „unverzüglich und vorbehaltlos“, wie die Militärregierung befiehlt, zum Arbeitseinsatz einzufinden.
Im Morgengrauen muss ich mit dem Radl hinaus zu Wolfra, einer Getränkefabrik, in der Marmelade aus allerlei Früchten gerührt wird. Ständig muss ich mir das Gezänk zwischen dem kommunistischen Vorarbeiter und einem ebenfalls zwangsverpflichteten Ex-Offizier anhören. Doch die Arbeit ist nahrhaft: Ich kann in den Bottich greifen und naschen.
Bei Moorenweis zum Rüben klauben und Klee schneiden
Danach karrt man mich zur Ernte aufs Land, wo nunmehr die „Fremdarbeiter“ und die „Prisoners of War“ fehlen. Bei Ampfing und Moorenweis schneide ich Klee als Frühfutter, lade Getreidebündel auf, klaube Rüben, überfahre mit dem Leiterwagen versehentlich einen jungen Hund, der mir immer nachläuft. Die Verpflegung enttäuscht: fetter Schweinsbraten beim einen Bauern und Griesbrei beim anderen, und das Tag für Tag. Obendrein klaut mir jemand aus der Knechtkammer den Rest des großen Käselaibs, den ich am 1. Mai auf der Praterinsel geplündert habe.
Am Ende des ersten Nachkriegssommers wird mir eine leichtere Arbeit zugewiesen. Seit Ende Juli amtiert in der Wagmüllerstraße, in der heute Edmund Stoiber für Brüssel tätig ist, der Suchdienst des Bayerischen Roten Kreuzes. Meine Aufgabe dort ist, Hollerith-Karten mit Meldungen von Suchenden und Vermissten auszufüllen und abzugleichen. Andere Abteilungen des BRK, das Prinz Adalbert von Bayern leitet, befassen sich mit der Betreuung von Gefangenen und von Opfern der Naziherrschaft.
Es sind Aufgaben, die noch lange nicht bewältigt sein werden, weder in München noch überhaupt.
Erinnerungen von Zeitzeugen
Über den Neuanfang nach dem Krieg, über die ersten zaghaften Schritte der Stadt in das neue demokratische Zeitalter im Sommer vor 70 Jahren berichtet in der AZ- Serie „Harte Jahre“ der Münchner Journalist und Autor Karl Stankiewitz (86), ein echter Zeitzeuge und AZ-Mitarbeiter seit 1948. Nur nebenbei: Er ist damit der älteste noch aktive Lokal-Journalist von ganz Deutschland.
Erinnern Sie sich ebenfalls noch an die ersten Monate oder unmittelbaren Jahre nach dem Krieg? Ober besitzen Sie alte Aufzeichnungen oder Fotos? Über Zuschriften würden wir uns sehr Freude!
Schreiben Sie uns – per Post: AZ, Lokales, „Kriegsende“, Garmischer Straße 35, 81373 München. Oder per Mail: lokales@az-muenchen.de