Schwarzer September: Zum 50. Jahrestag des Münchner Olympia-Attentats
München - Um 8 Uhr morgens scheint die olympische Welt noch in Ordnung. Erst einige wenige der rund 4.000 Medienleute sind am 5. September 1972 ins Pressezentrum gekommen, die meisten nehmen das Frühstück im Freien ein. Strahlende Sonne über der Stadt. Wenn auch in weiten Teilen Deutschlands ein Tief aufgezogen ist – München soll heiter bleiben, so sagten die Meteorologen voraus.
In ihren Schließfächern finden die Journalisten an diesem Morgen eine Einladung zu einem "Oktoberfest im September", zu einer richtigen bayerischen Gaudi auf der Winklmoosalm am Tag nach den Spielen.
Noch geben die vielen Fernsehschirme über den schwarzen Sesseln kein Bild. Aber schlagartig ist die Nachricht da: Terror im Olympischen Dorf. Und plötzlich füllt sich das Foyer der zurzeit größten Nachrichtenbörse der Welt. Alle sind verstört, entsetzt, meist sprachlos. Sie hasten zu Telefonen, Büros, Monitoren. Keiner weiß Genaues.

Pressesprecher: "Mindestens ein Mensch erschossen"
Das Hauptquartier der Weltpresse gleicht einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. "Vermutlich palästinensische Terroristen in die israelischen Quartiere eingedrungen ... Mindestens ein Mensch erschossen ... Sie lassen keinen Arzt rein" – das sind die ersten Informationen, die Olympia-Pressesprecher Hans "Johnny" Klein in drei Sprachen mitteilen lässt.
Um 9.15 Uhr kommt Mark Spitz zu seiner schon am Vortag angesetzten Pressekonferenz, erhält seine achte Goldmedaille. Spitz, der Jude ist, weigert sich, vors Mikrofon zu treten. "Wegen der Attacke der Araber", sagt er.
Am Olympischen Dorf sind inzwischen alle Eingänge versperrt. Was bei diesen "heiteren Spielen" unbedingt vermieden werden sollte, ist nun doch eingetreten: Polizisten auf allen Straßen, mit umgehängten Maschinenpistolen und Funksprechgeräten vor und im Dorf. Von drinnen kommen Busse mit Athleten, die zu ihren Wettkämpfen wollen.

Journalisten werden mit Polizeigewalt ausgewiesen
Wer von den Journalisten noch vor Inkrafttreten der verschärften Sicherheitsbestimmungen im Dorf war, wird festgehalten und mit Polizeigewalt ausgewiesen, darunter auch Dan Shilon, der Sportchef des israelischen Fernsehens. Mit der telefonischen Alarmmeldung "Die Araber sind da" waren Shilon und andere israelische Medienvertreter gegen sechs Uhr vom Chef der israelischen Mannschaft ins Dorf gerufen worden.
Inzwischen waren schon fast zwei Stunden seit dem Überfall vergangen. Vor deren Quartier in der Connollystraße 31 stehen drei Ambulanzwagen. Shilon berichtet uns stammelnd: "Ich sah den Körper von Moshe Weinberg - zerschmettert, offensichtlich von einem Maschinengewehr durchsiebt." Alle israelischen Athleten und ihre Trainer hatten noch geschlafen. Der Sabbat stand bevor.
Die Gangster waren ganz einfach - wie zuvor schon Athleten, die sich nicht an Ausgangszeiten hielten - über den lasch bewachten Zaun des Dorfs geklettert, sie trugen Sportanzüge und hatten Sturmgewehre in Sporttaschen versteckt. Drei Mitglieder der israelischen Mannschaft konnten bei dem Überfall gerade noch entkommen, berichtet Israel Rosenblatt aus Jerusalem. Einer war im Schlafanzug. Ihm jagte einer der Terroristen einen Schuss nach.
Diesen Schuss hörte auch der Fernsehreporter Dagobert Lindlau, der mit den Eishockeyspielern Kanadas deren Sieg feierte. Da war es kurz nach 4.30 Uhr. "Ich hielt es für den Schuss eines Schützen", berichtet mir der erfahrene Sportschütze Lindlau. Ein Augenzeuge will vor dem Quartier der DDR-Mannschaft einen Mann mit schwarzer Maske und weißem Hut sowie zwei Leute mit rotem Pullover auf dem Balkon einer israelischen Wohnung bemerkt haben.
Plötzlich ein Schuss. Die Scharfschützen legen los
Was sich dort abgespielt hat, schildert der GewichtheberTrainer Tuvia Sokolsky, der durch einen Fenstersprung entkommen war: Der kräftige Ringerkampfrichter Yossef Gutfreund habe, als die Terroristen eingedrungen seien, laut geschrien: "Jungs, haut ab!" Mit aller Kraft hat Gutfreund noch versucht, die schon halb geöffnete Tür zuzuhalten. Dann streckte auch ihn eine Salve aus einem Maschinengewehr zu Boden.
Was nun weiter geschieht, können Hunderte von Journalisten, Kameraleuten und Schaulustigen von einer Anhöhe am Westzaun des Dorfs aus über Stunden hin ziemlich genau beobachten: Der Mann mit dem weißen Hut, er trägt auch eine Khakijacke, verhandelt vom Balkon aus wiederholt mit Innenminister Hans-Dietrich Genscher, dem Polizeipräsidenten Manfred Schreiber und uns unbekannten Personen.
Die Geiselnehmer fordern - das erfahren wir aber erst später - die Freilassung von 232 in Israel gefangenen Palästinensern, der deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof sowie ihres japanischen Gesinnungsgenossen Kozo Okamoto. Ein erstes Ultimatum wird bis 17 Uhr verlängert.
In Bonn tritt unter Bundeskanzler Willy Brandt ein Krisenstab zusammen, in Tel Aviv versammelt sich die Regierung Golda Meir. Die Ministerpräsidentin will den Forderungen der Terroristen um keinen Deut nachgeben. Währenddessen schleichen sich - für Außenstehende und auch fürs Fernsehen gut sichtbar - Polizisten in Trainingsanzügen mit Handfeuerwaffen über die Mauern und Dächer an den Ort des Geschehens. Es ist bereits dunkel, als endlich die gefangenen Israelis von mehreren Männern herausgeführt und in einen vorgefahrenen Bus getrieben werden. Das Fahrtziel, hört man, heißt Fürstenfeldbruck.

Acht Entführer - fünf Scharfschützen
Auf dem Nato-Flugplatz stehen zwei Hubschrauber und eine Boeing 727 bereit. Diese ist voll betankt. Acht Araber, wie man nun zählen kann, und die überlebenden neun Geiseln steuern das Gelände an. An strategischen Punkten stehen fünf Scharfschützen vom Bundesgrenzschutz; mehr nicht, denn man geht nur von fünf Tätern aus.
Unter die Mannschaft hat die Einsatzleitung einige Streifenpolizisten in Zivil gemischt. Angebliches Flugziel: Kairo, wie von den zu allem entschlossenen Entführern gefordert. Auf Deutsch und Arabisch werden die Terroristen zur Übergabe der Geiseln aufgefordert. Ein Panzerwagen setzt sich in Bewegung.
Plötzlich löst sich ein Schuss, die bereitstehenden Scharfschützen feuern aufs Flugfeld. Die Terroristen verschanzen sich und schießen auf ihre bereits in die Hubschrauber verbrachten Opfer. Einer wirft eine Handgranate hinein. Die Szene wird vollends dramatisch und unübersichtlich, nachdem die Lichtzentrale im Tower getroffen ist.
Das wildwestartige Feuergefecht dauert etwa 45 Minuten. Um Mitternacht steht jedenfalls fest: Alle neun Israelis, fünf der Araber und ein deutscher Polizeibeamter sind tot. Drei Terroristen werden festgenommen. 20 Stunden des Schreckens enden in Blut und Chaos.

Codename "Schwarzer September"
Zur Tat bekennt sich alsbald eine Gruppe, die sich "Schwarzer September" nennt und angeblich auch der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO unbekannt ist. Die drei zunächst in Bayern inhaftierten Attentäter werden schon 50 Tage danach per Flugzeugentführung freigepresst.
Auf sie und die mutmaßlichen Drahtzieher beginnt eine weltweite, jahrelange Jagd des israelischen Geheimdiensts, wobei - laut Spielbergs Film "Munich" - nach und nach 17 Araber getötet werden. Schwerer Vorwürfe (unter anderem: "zu spät und zu schlecht geschossen") haben sich die deutschen Sicherheitsverantwortlichen noch nach Jahren zu erwehren.
Am 6. September, dem Tag nach den schrecklichen Ereignissen, sind überall in der festlich geschmückten Stadt die Fahnen auf halbmast gesetzt. Aus der nagelneuen Fußgängerzone ist aller olympische Schmuck entfernt und vom Rathaus werden die gelb-schwarzen Schabracken abgenommen.
Eigentlich soll die Trauerfeier um 10 Uhr beginnen. Sie verzögert sich, denn an die 80.000 Menschen drängen sich ins Olympiastadion, etwa 20.000 weitere als Zaungäste auf dem benachbarten Hügel und am Seeufer. Der Einzug von etwa 3.000 Athleten hat gar nichts mehr von der Heiterkeit der Eröffnungsfeier.
"The Games must go on!"
OK-Präsident Avery Brundage, der 84-jährige Mann aus Chicago, spricht in seiner Rede den trotzigen Satz, der in die olympische Geschichte eingehen soll: "The Games must go on!" Noch wenige Stunden zuvor war es keineswegs sicher, dass die sportlichen Spiele "weitergehen".
Vor allem dem Deutschen IOK-Mitglied Willi Daume fiel es nach eigenem Bekunden schwer, seinen Kollegen zu empfehlen, ihre ursprüngliche Empfehlung aufrecht zu halten. Sie hatten tatsächlich beschlossen, die Spiele fortzusetzen, wobei sie sich jedoch auf die fälschliche Erklärung des Bonner Regierungssprechers Conrad Ahlers stützten, dass alle Geiseln gerettet seien.
7. September 1972. Ein fernes Gewitter treibt Staub und leichten Regen über den Olympiapark. Es ist 16 Uhr am Tag nach der Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags. Alle Buden der Spielstraße sind geschlossen. Die flimmernden Lichter sind ausgegangen. Das Trampolin und die Rutsche haben kein Wasser mehr. Dort, wo die "heiteren Spiele" am heitersten sein sollten, sieht der große grüne Park am traurigsten aus.
Das soll der letzte Text gewesen sein, den Karl Stankiewitz für die AZ verfasst hat. So hat es unser ältester Mitarbeiter (93) uns zumindest mitgeteilt. Stankiewitz will aufhören.
In der Wochenend-Ausgabe schreibt dann auch nicht er – sondern wir über ihn. Und darüber, wie Karl Stankiewitz auf seine Jahrzehnte als Beschreiber dieser Stadt zurückblickt.
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