Wofür die Münchner Palästina-Demos stehen — und wofür nicht
München - Die Chefin der Rathaus-SPD war sehr zufrieden. Mit der Lage in der Stadt – und mit ihrem Oberbürgermeister. In München sei es zu keinen größeren Demonstrationen oder Ausschreitungen gekommen, twitterte Anne Hübner am vergangenen Montagmorgen. Das sei auch "ein Verdienst unseres OBs, der dafür sorgt, dass die Stadt zusammensteht. Immer."
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter sagt Friedensgebet ab
Die These war gewagt. Das zeigte sich nicht nur wenige Stunden später, als Dieter Reiter selbst das Friedensgebet des Muslimrats auf dem Marienplatz absagte, für das Reiter seinen Namen als Schirmherr hergegeben hatte.
Es zeigt sich auch, wenn man die Reaktionen dieser Woche anschaut, mit Experten über die Hintergründe spricht – und wenn man einen näheren Blick auf die Palästina-Demos wirft. Eine AZ-Spurensuche zum Nahost-Konflikt auf Münchens Straßen, einen Monat nach dem bestialischen Hamas-Terrorangriff auf israelische Zivilisten am 7. Oktober.
Imame schicken offenen Brief an OB Reiter
Die Stimmung zwischen dem OB und den Imamen war schon wenige Tage nach der Attacke angespannt. Reiter hatte bei einer Gedenkveranstaltung vor der Synagoge angekündigt, pro-palästinensische Kundgebungen zu verbieten.
In einem nicht nur im Ton bemerkenswerten offenen Brief an Dieter Reiter warfen ihm die 13 Imame vor, Gesprächsangebote abzulehnen – und drohten unverhohlen, wenn er nicht kurzfristig mit ihnen spreche, drohe "die Lage" in der Stadt "unaufhaltsam zu eskalieren". Reiter wehrte sich öffentlich, er habe nie ein Gespräch verweigert, empfing dann Imame im Rathaus – und sagte zu, das "Friedensgebet" zu unterstützen.
Die Fachinformationsstelle für Rechtsextremismus (Firm) berät auch Stadtpolitik und -verwaltung im Umgang mit Rechtsradikalen. Sie hat aber auch ein sehr waches Auge auf islamistische Strukturen, beobachtet in diesen Wochen das Demonstrationsgeschehen im Detail. Zu dem Brief der Imame heißt es auf AZ-Nachfrage: "Bei mindestens sieben der 13 Imame, die den offenen Brief unterschrieben haben, haben wir Verbindungen zu islamistischen Institutionen oder Strukturen feststellen können."
Wegen Friedensgebet in München: OB Reiter in der Kritik
Reiter aber hielt an seinem Vorhaben fest, die Veranstaltung wurde mit ihm als Schirmherren beworben. Und das, obwohl der Veranstalter der Muslimrat war – dem eine Stadtratsmehrheit schon 2019 Fördergelder versagt hatte mit dem Argument, das Gremium habe sich "zu einer Plattform islamistischer Gruppen" entwickelt. Doch am vergangenen Wochenende, kurz vor dem für Montag geplanten Gebet, wurde wieder Kritik laut.
Das "Linke Bündnis gegen Antisemitismus" (unter anderem Grüne Jugend) kritisierte die Veranstaltung und damit Reiter scharf. Der Muslimrat sei keine Vertretung der Muslime Münchens, sondern der Islamisten Münchens, hieß es. Aus Berlin schaltete sich Volker Beck, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ein – und griff Reiter ebenfalls an. Auf AZ-Anfrage wollte sich das OB-Büro am Wochenende dazu nicht äußern.
Offenbar hoffte Reiter da noch, das Vorhaben durchziehen und damit ein gemeinsames Zeichen zum Frieden zwischen den Religionen in München setzen zu können. Doch dann sagten die Kirchenvertreter ihre Teilnahme ab – auch der Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) wollte nicht mehr.
Daraufhin erklärte Reiter, das Gebet abzusagen – mit dem Hinweis darauf, dass das Friedensgebet nur unter Teilnahme von jüdischer Seite Sinn ergeben hätte. "Die Zeit ist offenbar nicht reif, um in München ein gemeinsames Friedensgebet zu ermöglichen", seufzte er in seiner Erklärung. Zur Kritik an islamistischen Strukturen: weiter kein Wort.
Friedensgebet-Absage erfolgte ohne inhaltliche Begründung
So zog Reiter Anfang der Woche weiteren Ärger auf sich. Der Antisemitismusbeauftragte der Staatsregierung, Ludwig Spaenle (CSU) etwa sagte, es sei "unverantwortlich" die Verantwortung nun "ohne jede inhaltliche Erläuterung der Gründe für die Nicht-Teilnahme" der jüdischen Seite zuzuschieben. Das Linke Bündnis schrieb, der interreligiöse Dialog scheitere also nicht etwa an den Islamisten, sondern den Juden. "Das ist das Signal, das Reiter – bewusst oder nicht – sendet."
Doch mehr sagte der OB auch in den Tagen darauf nicht – was selbst in Berlin für Aufsehen sorgte. "Reiter wollte sich auf Anfrage nicht dazu äußern, warum er die Schirmherrschaft der Veranstaltung trotz eindeutiger Islamismus-Bezüge übernommen hatte", wunderte sich etwa die "Welt", "unbeantwortet ließ er auch die Frage, warum er die Absage der Veranstaltung nicht mit diesen Bezügen, sondern mit der Absage der jüdischen Gemeinde begründete".
Charlotte Knobloch, die IKG-Präsidentin, drückte sich gewohnt vorsichtig aus, teilte aber explizit mit, es habe sich gezeigt, dass "die Veranstaltung in ihrer geplanten Form nicht die richtigen Signale ausgesendet hätte".
Imam Benjamin Idriz wiederum sagte, die Absagen seien ihm offiziell aus "terminlichen Gründen" mitgeteilt worden. Idriz erschien an dem Abend trotzdem auf dem Marienplatz – was ihm erneute Kritik einbrachte. Der langjährige SPD-Landtagsabgeordnete Florian Ritter schrieb, es habe sich um eine "reine Selbstinszenierung" gehandelt, "ohne Juden, aber unter Einschluss der problematischen Verbände". Idriz wiederum sprach in einer Mitteilung von der "ausgestreckten Hand", die nicht ergriffen worden sei, einer "bitteren Erfahrung". Zur Islamismus-Kritik: kein Wort.
Experten sehen Querverbindungen aus dem Muslimrat kritisch
Dabei sehen Experten viele problematische Querverbindungen aus dem Muslimrat. Das Islamische Zentrum München etwa steht im Verfassungsschutzbericht, die Verfassungsschützer ordnen die Moschee in Freimann der Muslimbruderschaft zu, deren Arm die Hamas ist. Die Al-Ahibba-Moschee in der Lerchenau wiederum taucht im Verfassungsschutzbericht nicht auf. "Hier treten aber regelmäßig Prediger auf, die ideologisch der Muslimbruderschaft zuzuordnen sind", heißt es von der Firm.
Und auf den Straßen der Stadt? Dass es "keine größeren Demonstrationen" gegeben habe, wie SPD-Chefin Hübner glaubt, ist zumindest eine gewagte These. Tatsächlich ist es so, dass Pro-Palästina-Demonstrationen in München in den letzten Wochen teils deutlich mehr Menschen auf die Straße gebracht haben als Gedenkveranstaltungen für die ermordeten Terror-Opfer und Pro-Israel-Kundgebungen.
"Palästina spricht": Demos sind fundamentalistisch geprägt
Die größten Demos werden von "Palästina spricht" veranstaltet, so auch die zunächst größte am 28. Oktober mit etwa 4.000 Teilnehmern. Die Gruppe "Palästina spricht" hat unmittelbar nach der Terror-Attacke die Terroristen im Internet als Helden gefeiert und die Opfer verhöhnt.
Die Münchner Sektion teilte nach der Absage des "Friedensgebets" mit, OB Dieter Reiter habe sich "dem Druck der Zionisten" gebeugt, er unterstütze den "Genozid an Zivilisten" in Gaza. "An seinen Händen klebt Blut" hieß es. "Wir werden das nicht vergessen."
Über die Proteste sagen die Beobachter von der Firm: "Diese Demos sind definitiv fundamentalistisch geprägt." Man höre immer wieder Allahu-Akbar-Rufe. Die Teilnehmer zeigten den radikalen "Tauhid-Finger". "Alles nicht nur von einzelnen Personen, sondern der breiten Masse – das zeigt deutlich, dass es bei diesen Demos auch darum geht, den Islam politisch zu nutzen."
Palästina-Parole soll künftig strafrechtlich verfolgt werden
Wie viele Fotos beweisen, sind auch immer wieder "From the river to the sea – Palestine will be free"-Schilder zu sehen, eine Parole, mit der gefordert wird, Israel von der Landkarte zu tilgen. Dieser Slogan soll künftig strafrechtlich verfolgt werden.

Die Generalstaatsanwaltschaft München teilt mit, die neue rechtliche Bewertung gehe auf die Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums zur Terrororganisation Hamas sowie zum Verein Samidoun nach dem Angriff der Hamas auf Israel zurück. Staatsanwaltschaft und Polizei in Bayern würden daher künftig auch beim isolierten Verwenden des Slogans – egal in welcher Sprache – Ermittlungen wegen des Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen einleiten, hieß es weiter.
Konkret bedeute dies, dass bei einer Verurteilung die gleichen Strafen drohen wie für das Hakenkreuz oder Slogans der Nationalsozialisten. Laut Paragraf 86a im Strafgesetzbuch wird die Verwendung mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft.
Firm: Islamismus in München ist anders ausgerichtet als in anderen deutschen Städten
Bei "Palästina spricht" werde immer wieder ein junger Mann als Ordner eingesetzt, der in sozialen Medien Hamas-Kämpfer als Profilbild genutzt und Terroristen-Propaganda-Videos verbreitet habe, so die Firm. "Er wird auf den Demos nicht nur nicht ausgeschlossen", so die Firm, "er wird mit einer Ordner-Weste ausgestattet, darf Parolen vorgeben". Gegen einen Anmelder der ersten Pro-Palästina-Demos ermittelt die Polizei, seine Wohnung wurde durchsucht.
Dass es in München keine radikalen Bilder wie etwa aus NRW gibt, erklärt die Firm damit, dass die drei salafistischen Gemeinden in München klein seien. Der Islamismus in München sei anders ausgerichtet. "Es wird versucht, islamistische Ziele auf gewaltfreiem und legalem Weg durch Ausnutzung demokratischer Prozesse zu erreichen."
Zu der These passt, dass es aus dem Polizeipräsidium auf AZ-Anfrage heißt, grundsätzlich seien diese Versammlungen "für uns bislang unproblematisch" gewesen.
Münchner Imam ruft zu Pro-Palästina Demos auf
Neben "Palästina spricht" ruft auch der Münchner Imam Ahmad Schekeb Popal zu weiteren pro-palästinensischen Demos auf. Erst am vergangenen Sonntag (5. November) nahmen mehrere Hundert an einer Demo am Odeonsplatz teil (wo auch geschlechtergetrennt gebetet wurde).
"Verbal grenzt sich Popal deutlich von Antisemitismus ab", räumt die Firm ein. "Er sagt, dass Leute, die Juden hassen, nicht willkommen sind." Popal selbst erklärte in einem öffentlichen, an die AZ gewandten Statement, er sei "nicht nur verbal gegen Antisemitismus, sondern tatkräftig". So habe er in einer Synagoge Workshops geleitet mit mehreren hundert Lehrerinnen und Lehrern über den Kampf gegen muslimischen Antisemitismus. Er verurteile jede Form von Menschenhass, schreibt der Imam in dem Statement.
Allerdings hat Popal selbst zum Beispiel am 28. Oktober am Odeonsplatz die Menge mit "Kindermörder Israel"-Rufen eingestimmt, wie Videos zeigen. Nach Einschätzung der Experten von der Firm sind seine Demonstrationen insgesamt fundamentalistisch geprägt, es würden immer wieder antisemitische Parolen gerufen. Die Firm erklärt, er pflege Kontakte zu salafistischen Predigern, es gebe Fotos von ihm bei einer inzwischen verbotenen Koranverteilungs-Gruppe.
"Kindermörder Israel" wird oft auf den Demos gerufen
Ein großes Thema auf den Demos sind Kinder – über die emotionalisiert wird. Gemeint sind, klar, nicht die verschleppten und ermordeten Israelis. So erschallt eben oft "Kindermörder Israel", kleine Kinder werden mitgebracht. Teils sind auch sie es, die in den ersten Reihen gewickelte Stoffnetze mit Kunstblut tragen, die tote palästinensische Kinder symbolisieren sollen.
Linksradikale übrigens nehmen anders als in anderen Städten fast überhaupt nicht teil. Nur eine winzige Splittergruppe ruft bisher dazu auf. Stattdessen hat die Firm eine Zunahme türkischstämmiger Teilnehmer beobachtet seit Präsident Erdogan die Hamas-Terroristen unter anderem als "Freiheitskämpfer" bezeichnet hat. Auch auf Münchens Straßen sind in dem Zusammenhang nun Türkei-Fahnen zu sehen.
Mehr als 5.000 Menschen bei "Palästina spricht"-Demo am Samstag
Viele der Imame zumindest haben den Terror der Hamas wie Benjamin Idriz von Anfang an relativ deutlich verurteilt – wenn auch oft mit vielen "Aber" versehen. Öffentlich scheint inzwischen mancher seine Worte genauer abzuwägen. Dazu passt, dass Idriz nach Kritik einen Post gelöscht hat, in dem vom "Schlachthaus Gaza" die Rede war.
Ein anderer Imam, Mohamed Ibrahim vom Islamischen Zentrum, wurde sogar suspendiert – zumindest vorläufig. Er hatte am 7. Oktober nach den Terror-Attacken mit einem Zwinker-Smiley gepostet: "Jeder hat seine eigene Art, den Oktober zu feiern."
Nach Protesten entschuldigte er sich und distanzierte sich halbherzig. Er habe zum Zeitpunkt des Posts gehört gehabt, dass "den Palästinensern etwas Großes gegen Israel" gelungen sei. Da sei ihm der "lustige" und "sarkastische" Spruch eingefallen, ohne dass ihm die Ereignisse und die Tragweite der Geschehnisse schon bewusst gewesen seien.
Am vergangenen Samstag (11. November) nun hissten unbekannte Aktivisten eine Palästina-Fahne am Turm des Rathauses. Und demonstriert wurde auch wieder. Dieses Mal offenbar gemeinsam. Imam Popal rief in sozialen Medien zur Teilnahme der "Palästina spricht"-Kundgebung auf. Bis zu 5.500 Menschen nahmen nach Polizeiangaben teil.
Möglicherweise war die Demo damit noch größer als die bisher größte Palästina-Kundgebung in München. Auf Karten sei Israel das Existenzrecht abgesprochen worden, notierte ein Reporter der "Süddeutschen Zeitung". Im Mittelpunkt der Kundgebung sei nicht die Solidarität mit der Zivilbevölkerung in Gaza gestanden, sondern verbale Attacken auf Israel. "Der Terror der Hamas", so die "SZ", sei hingegen "an keiner Stelle erwähnt" worden.