Olympia-Attentat in München: "Die Spiele gingen weiter, aber eigentlich waren sie vorbei"
München - Der Ort stimmt, das Wetter stimmt, sogar der Kuchen stimmt. Das Ehepaar Lindemeier sitzt im Café vor seinem ehemaligen Wohnhaus im Olympiadorf, und Andreas Lindemeier isst Sachertorte - wie vor 50 Jahren. "In den Katakomben direkt unter uns war stapelweise Sachertorte gelagert", erzählt der pensionierte Lehrer, während er auf den Terrassenboden zeigt. "Die habe ich damals auf mein Zimmer genommen, eingepackt und nach Hause geschickt - ein Carepaket."
Lindemeier und seine Frau waren bei den Olympischen Spielen 1972 dabei - heute genießen sie die Sonne, die auf das Café am Helene-Mayer-Ring scheint. Das Ehepaar aus Göttingen hat Urlaub und auf der Rückreise noch einmal einen Abstecher gemacht - an den Ort, wo die beiden vor 50 Jahren gelebt und gearbeitet haben, die große Euphorie der Olympischen Spiele erfuhren, mit Sportlern feierten und am 5. September um ihr Leben bangten.

"Alles war so bunt und euphorisch - bis zum Anschlag"
"Wir haben uns gefragt, ob die Gebäude hier früher bunter waren", erzählt Birgitt Lindemeier, während sie auf die weißen Betonhäuser schaut. "Aber auf den alten Fotos sieht alles genauso aus wie heute. Der Eindruck kam wohl nur von den Fahnen, den bunten Kleidern und der Euphorie, die überall herrschte."
1971 besuchte Birgitt Lindemeier ihren damaligen Freund (und heutigen Mann) im Krankenhaus in Göttingen, wo er sich von einer Mandeloperation erholte. Der Sommer war vorbei, und die beiden sollten bald mit der Schule fertig werden. In den Monaten danach wollten sie reisen. "Aber eine Weltreise war damals nicht möglich", erzählt Birgitt Lindemeier.

Also entschlossen sie sich für das Nächstbeste: Wenn sie schon nicht um die Welt reisen konnten, musste die Welt halt zu ihnen kommen - die Olympischen Spiele 1972 in München kamen ihnen also gerade recht. "Kempinski hat damals Mitarbeiter für die Olympischen Spiele gesucht", erzählt Andreas Lindemeier. "Meine Frau hat mir die Bewerbung ins Krankenhaus gebracht, wir haben uns einfach mal beworben."

Doch für welchen Job? "Wir waren ja für überhaupt nichts qualifiziert", erzählt Birgitt Lindemeier lachend. Sie bewarb sich also als "Buffethilfskraft", ihr Mann als "Transportarbeiter". "Ich wusste damals gar nicht, was das genau bedeutet", sagt Andreas Lindemeier. "Ich habe mir aber Spektakuläres vorgestellt" - die Wirklichkeit sollte allerdings etwas ernüchternder sein.
"Mit dem Ausweis kamen wir überall auf dem Gelände hin"
Am 24. Juli 1972 machten sich Andreas und Birgitt auf den Weg ins Olympische Dorf. "Wir Kinder vom Land fuhren zum ersten Mal U-Bahn", erzählt Andreas Lindemeier.

Beim Einchecken bekommen beide einen Pass. Er sollte ihre Eintrittskarte zu allen olympischen Arealen sein. "Mit dem Ausweis kamen wir überall hin", erzählt Andreas Lindemeier. "Nach ein paar Tagen kaufte ich mir einen Trainingsanzug, und wenn ich in dem mit meinem Pass an der Brust das Olympische Dorf verließ, warteten schon die Autogrammjäger vor den Toren - die dachten, ich sei ein Olympischer Sportler." Lindemeier gibt ganz selbstverständlich Autogramme: als "Andrew Mayer, New Zealand Rowing."
Untergebracht waren Lindemeiers im Hochhaus gegenüber der Mensa. Er im dritten Stock, sie im ersten. Andreas Lindemeier teilte sich sein Zimmer mit einem Physikstudenten aus Münster und einem Schneidermeister, dessen Sohn sich beworben hatte, jedoch als zu jung befunden worden war - woraufhin sein Vater seine Schneiderei in Graz kurzzeitig schloss, um ihn zu ersetzen. Der vierte Zimmernachbar war Manni, Jurastudent aus Marburg, der später als Fußballreporter Manni Breuckmann Karriere machen sollte. Birgitt hatte internationalere Zimmergenossen: "Das Stockbett über mir hatte Katharina aus Haifa, andere Frauen kamen aus Brasilien, Japan und Amerika.
Auch Andreas macht internationale Bekanntschaften. "Eines Abends standen Manni und ich auf unserem Balkon", erzählt er. "Unten stand ein Sportler mit einer Silbermedaille - ganz allein." Wir riefen vom Balkon herunter, was denn los sei und wieso er nicht auf einer Siegerparty war. "Ich bin Ringer, das interessiert keinen in Amerika", rief der Mann hoch.
Das wollte Andreas Lindemeier nicht so stehen lassen. "Wir sind also mit ihm losgezogen und haben von der nächsten Tankstelle einen Kasten Bier geholt und mit ihm auf unserem Zimmer seinen Sieg gefeiert." Der Ringer - der Amerikaner Richard Sanders - war rasch betrunken, und Lindemeier und seine Zimmergenossen wechselten sich ab, mit seiner Medaille zu posieren.
Gefeiert wurde im Hochhaus die ganze Zeit - und während im Olympischen Dorf streng nach Männern und Frauen getrennt wurde, war dieses Haus das einzige Gebäude, in dem es Männer- und Frauenzimmer gab.
"Das war sehr ausgelassen", erzählt Andreas Lindemeier. "Überall wurde gefeiert, manche zogen mit ihrer Matratze auf den Balkon, weil es ihnen im Zimmer zu laut war." Als nach dem Terror-Anschlag am 5. September die Zimmeraufteilung wieder hergestellt werden sollte, war das nicht mehr möglich - so wild hatten sich die Angestellten durchmischt.
Andreas Lindemeiers Arbeitsplatz war - wenig aufregend - an der Durchlauf-Fritteuse. Dort gab es vier Mitarbeiter. Einen, der säckeweise Pommes, Kroketten und Fischstäbchen in die Fritteuse lud, einen anderen, der nur dafür zuständig war, die Temperatur und Dauer einzustellen - und die beiden "Transportarbeiter". Ihr Job war, die frittierte Ware von der Fritteuse in einen Wärmeschrank zu laden. "Geschmeckt hat davon übrigens nichts", sagt Lindemeier. "Wir hatten keine Gewürze." Das habe so manchen Koch zur Verzweiflung getrieben.

Allgemein lief vieles nicht nach Plan: Kempinski hatte von einem Computer berechnen lassen, wann welches Essen bereitstehen musste - geplant hatte man mit deutschen Essenszeiten, an die sich das internationale Publikum natürlich nicht hielt. "Wir hatten die Tage vor den Olympischen Spielen das Servieren mit Wasser geübt", erzählt Lindemeier. "Um 12 Uhr 100 Lammsteaks auf der zweiten Mensa-Etage - das hieß, dass wir zur Übung Eimer Wasser um 12 Uhr auf die Mensa-Etage trugen."
Doch die penible Vorbereitung half nichts. Die internationalen Gäste kamen zu spät zum Essen, die Lammsteaks wurden schlecht und allesamt weggeworfen. "So lief das, bis es irgendeiner mal der Presse steckte. Daraufhin wurde das Essen an Altenheime gespendet." Nach der Arbeit fuhren Lindemeier und seine Kollegen, nach Fritteusenfett riechend, aber voller Freude in die Stadt zum Feiern und Trinken.
Am 5. September nahmen die frohen Spiele ein abruptes Ende. Doch davon bekommen Lindemeiers erst einmal gar nichts mit. "Um 8 Uhr morgens wurden wir mit einer Durchsage alarmiert. Es bestehe eine Gefahr, die Zimmer seien nicht zu verlassen." Mehr Informationen gab es nicht. "Überall hörte man Martinshörner. Wir haben um unser Leben gefürchtet."
Erst um 11 dürfen sie ihr Zimmer verlassen - doch was passiert ist, wissen sie immer noch nicht. "Von einer Telefonzelle aus rief ich meine Mutter an - die erklärte mir dann 500 Kilometer entfernt, was sich 100 Meter von mir abgespielt hatte." Acht palästinensische Terroristen waren in das Olympische Dorf eingedrungen und hatten elf israelische Olympia-Teilnehmer als Geiseln genommen, zwei gleich ermordet - die restlichen neun starben später bei einer missglückten Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck.

Lindemeiers wussten davon anfangs nichts - obwohl der Krisenstab nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt tagte. Aus dem Fernseher bekamen sie erst am Abend mit, dass die Geiseln ausgeflogen werden sollten. "Wir gingen auf einen der Balkone unseres Hauses und sahen, wie die Geiseln und die Terroristen die Hubschrauber bestiegen", erzählt Andreas Lindemeier. "In diesem Moment war ich so wütend", erzählt Birgitt Lindemeier. "Man sieht, das - und man kann nichts tun."

Doch zuerst bekommen Lindemeiers gute Nachrichten: Die Geiseln seien befreit, die Geiselnehmer tot. "Mit dieser Nachricht sind wir dann schlafen gegangen", sagt Andreas Lindemeier. Erst am Morgen kam die Wahrheit an die Öffentlichkeit: Alle Geiseln waren tot, auch ein Polizist war erschossen worden - von den Geiselnehmern waren fünf getötet worden, drei wurden festgenommen.
Die Spiele gingen zwar weiter - "aber eigentlich waren sie vorbei", erzählt Andreas Lindemeier. "Kempinski hat allen Mitarbeitern angeboten, früher gehen zu können - das haben auch viele angenommen", fügt seine Frau hinzu. Lindemeiers bleiben, aber die schöne Zeit ist vorbei. Am 19. September 1972 fahren beide wieder nach Göttingen. "Es war eine tolle Erfahrung", sagt Birgitt Lindemeier, "aber nicht nur." Eigentlich wollten sich beide für die Olympischen Spiele vier Jahre später bewerben, "aber das war vorbei nach dem Attentat".
2018 besucht das Ehepaar die Gedenkstätte in der Conollystraße 31, wo die israelischen Sportler gelebt hatten. "Das war uns sehr wichtig", sagt Andreas Lindemeier. "Die Euphorie und dann der Terror, so nah beieinander."
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