Wiesn – ein flüchtiges Gefühl

Und, schon in Wiesn-Stimmung? Seit Wochen höre ich immer diese gleiche Frage. Eine saublöde Frage. Wiesn-Stimmung. Ich! Als gebürtiger Münchner kann ich da bloß sagen: natürlich – nicht. Oha, mag sich jetzt mancher denken, wieder so ein fehlgeleitet-spaßgebremster Wiesn-Muffel, der sich hier übers Oktoberfest auskotzen darf (und das dazu noch völlig nüchtern)? Ganz im Sinne der klassischen Trash-Trias – zu voll, zu teuer, zu laut? Der sich ab Samstag über jeden sich spontan entleerenden Wildbiesler oder fladenverminten Gehweg 16 volle Tage lang aber sowas von echauffieren wird?
Nicht dass mir das alles völlig wurscht wäre – aber nein, so einfach ist das Ganze nicht.
Ich mag die Wiesn ja. Eigentlich. Uneigentlich auch. Aber Wiesn-Stimmung? Schon vor dem Anstich? Das ginge zu weit. Zugegeben, für Außenstehende, Zu- und eigens Angereiste mag diese sehr münchnerische Wiesn-Dialektik nur schwer verdaulich sein. Was bleibt, ist daher wenigstens der Versuch einer Annäherung.
Der Großvater ist mit meiner Frau Mama schon hier gewesen
Wiesn – für mich persönlich ist sie eben weder ein Zustand noch eine Zeitspanne, kein Faschings-Ersatz und erst recht keine fünfte Jahreszeit. Wiesn ist für mich ein Kanon von Gefühlen. Mal angenehme, mal weniger angenehme. Mal sehr, sehr flüchtig. Und oft sogar recht zwiespältig.
Was Eingeborenen wie mir dabei ungemein hilft, diese Wiesn-Gefühle zu entwickeln und den 16-tägigen stadtweit-dauerberauschten und getrachteten Ausnahmezustand nicht nur zu ertragen, sondern im Grunde des Herzens heiß und innig zu lieben (ja, das geht), ist das dynastische Element.
Wiesn-Liveticker: München wappnet sich für den Anstich
Der Großvater war mit meiner Frau Mama schon hier, sie und mein Vater haben meine ersten Wiesn-Schritte begleitet – und ich habe meinem Nachwuchs das Wiesn-Gen implantiert. Beide, Sohn (15) und Tochter (13), als bloß wiesnnarrisch zu bezeichnen, wäre glatt gelogen. Es ist das Höchste für sie – freilich mit finanziell verheerenden Folgen für mich.
Wobei – dass meine Mutter den Wiesn-Virus an mich vererben hat können, war sehr lange fraglich. Noch heute erzählt sie mir die Geschichte, wie ihr im Schottenhamel ein Betrunkener – mit Verlaub, aber so war’s leider – „von hinten ins Gnack gspiebn“ hat. In der ach-so-guten, alten Wiesn-Zeit war das wohlgemerkt, vor über 50 Jahren.
Immer noch ein Trauma für sie, die die Wiesn trotzdem und immer noch mag. Wir lernen: Man muss die Wiesn schon sehr lieben, um sie nicht irgendwann mal zu hassen.
Ein Hendl und der Zeppelin-Weltflug – unvergesslich
Und so bin auch ich wiesnnarrisch geworden, ab den frühen 70er Jahren, als meine ersten Wiesn-Erinnerungen einsetzen – mit Ammer-Hendl, „Calypso“, „Rund um den Tegernsee“ und „Zeppelin-Weltflug“ (legendär, damals). Oder mit dem „Teufelsrad“, in dem sich mein Brüderchen – im Gegensatz zu mir – natürlich bis zum Schluss auf der Scheibe hat halten können, bis er beifallumtost mit dem Softball runtergekegelt wurde. Eine frühe Wiesn-Schmach.
Jahre später mache ich es besser. An gleicher Stätte melde ich mich mit meinem Kumpel – er wie ich fünf Maß im Gesicht – zum Boxkampf an. Dass der Spezl Franke ist, habe ich dem Annonceur vorab natürlich brühwarm gepetzt – und so das Gros der Zuschauer hinter mich gebracht. Mein Sieg (technischer K.o.) war reine Formsache.
Die Oide Wiesn lockt wieder mit Nostalgie
Tja, und so verbindet mich mit der Wiesn vor allem ein notorisch-nostalgisches Gefühl. Ein verdammt gutes Gefühl. Freilich auch ein sehr flüchtiges angesichts chronisch überfüllter Zelte nebst Reservierungs-Wucher und Armbandl-Schmarrn. Spontan ein Platzerl draußen vorm Zelt? Oder gar drinnen? Schier unmöglich. Eine ambulante Stehmaß irgendwo dazwischen? Schee war’s. Schee waar’s aa – aber halt schon lange passé.
Die Wiesn, längst Opfer ihres globalen Erfolgs? Vielleicht. Sicherlich aber hat sie diese gewisse Unschuld, diese spontane Leichtigkeit, an die ich mich noch gern erinnere, längst verloren. Nicht bloß ein weniger gutes Wiesn-Gefühl – ein Faktum.
Welch ein Kontrast zu meiner bierseligen Teenager-Zeit Anfang der 80er Jahre, als die Wiesn noch die Anmutung einer gediegen drögen Altherren-Veranstaltung verströmte, „Una Paloma blanca“ der einzige Wiesn-Hit war, das Volk noch geschunkelt und nicht kollektiv auf den Bänken kopf-gestanden hat. Party? Null.
Dafür gab’s viel Marschmusik – Hitlers Lieblingsmarsch, den Badenweiler, inklusive. Nicht bloß einmal am Abend. Was wieder einmal beweist: Früher war zwar vieles anders, aber gewiss nicht alles besser.
Wird die Wiesn immer jünger? Oder man selbst halt bloß älter?
Ja, die Wiesn wandelt sich, hat sie übrigens schon immer getan. Zum Glück. Täte sie das nicht, gäbe es sie vielleicht gar nicht mehr.
Nicht jeden Wiesn-Wandel freilich geht man selber mehr mit. Kein Wunder, dass mit den Jahren selbst die wiesnnarrischsten Münchner ein mehr und mehr distanziert-differenziertes Verhältnis zur Wiesn entwickeln. Wird die Wiesn immer jünger? Oder man selbst halt bloß älter? Das Wiesn-Gefühl – es wird zunehmend diffus. Kein Wunder eigentlich.
Alle Infos zum Oktoberfest 2015
Längst in Stimmung sind ja vor allem andere: nonstop gute Laune, 16 volle Tage. Dass die halbe Welt nach der Wiesn, nun ja, tracht-et, ist der Stadt aber auch aufgefallen. Darum hat sie die Oide Wiesn kreiert. Eine Reservat-Lösung, die funktioniert: draußen die Party-Wiesn mit touristischer Vielvölkerschau in Depperl-Trachten, drinnen die originale Wiesn der Eingeborenen in ihren traditionellen Gewändern. Wollen Erstere Letztere aus allernächster Nähe bestaunen, müssen sie Eintritt zahlen. Früher war’s auf der Wiesn ja mal umgekehrt...
Apropos bezahlen: Ja, die Wiesn ist teuer. Sauteuer sogar, was im sauteuren München passenderweise gar nicht arg auffällt. Und: Die Wiesn war immer schon teuer. Die Erinnerung der Älteren an „früher“ verklärt da oft manches.
Sicherlich, der Bierpreis. Als Zeitungsmensch ist mein alljährlich notorischer Aufschrei durchaus professioneller Natur. Ansonsten rate ich zu Pragmatismus: Jeder kann, muss sich aber kein überteuertes Wiesnbier kaufen – man kann sich sozusagen völlig zwanglos besaufen. Ein ganz gutes (Wiesn-)Gefühl, oder?
Das stärkste Wiesn-Gefühl? Am Samstag, umara kurz vor 12 im Löwenbräuzelt. Noch riecht es wiesntaufrisch nach Holz (und nach gar nix anderem). Es ist jedes Jahr der gleiche Platz. An den Tischen drumherum immer die gleichen Leute. „Ganz schee oid wordn“, denke ich mir dann oft. Hör mich aber sagen: „Griaß di, aa wieder da – guuuuad schaugst aus!“
... wenn dann die erste taufrische Maß auf den Tisch kommt
Und wenn dann, nach diesen Déjà-vus, die fast schon etwas Klassentreffenhaftes haben, die erste taufrische Wiesn-Maß auf den Tisch kommt und ich mir beim ersten Schluck denke: „Lafft scho wieda...“
Da ist es plötzlich da, dieses vielleicht stärkste Wiesn-Gefühl: Ein magisches Münchner Momentum, das sich freilich Maß für Maß, Tag für Tag verflüchtigt. Und nach 16 Tagen der tiefen Erleichterung Platz macht, dass der Schmarrn endlich vorbei ist. In der Früh hat mich mein Frauchen (ein völlig wiesnnarrischer NRW-Import) gefragt: „Sag mal – freust du dich auch schon so auf die Wiesn?“
„Ja“, habe ich gesagt.
Kein Zweifel mehr, ich bin in Wiesn-Stimmung. War aber ganz schön knapp heuer.
Thomas Müller (49) ist Vize-Chefredakteur der AZ. Er war, ist und bleibt Münchner.