Interview

"Vergewaltigungen können überall auf der Wiesn passieren": Darum braucht es den Safe Space für Frauen in München

Im Gewühl hat man seine Gruppe verloren, das Handy ist verschwunden oder die Handtasche mit dem Haustürschlüssel ist weg. In Notsituationen auf der Wiesn in München können sich Frauen an den Safe Space wenden – ein sicherer Ort für Mädchen und Frauen hinter dem Schottenhamel-Zelt.
von  Eva von Steinburg
Vor allem abends, wenn die Zelte langsam schließen, kommen viele Frauen zum Safe Space. (Archivbild)
Vor allem abends, wenn die Zelte langsam schließen, kommen viele Frauen zum Safe Space. (Archivbild) © Karl-Josef Hildenbrand/dpa

München -  Neben der Wiesnwache ist der Eingang. Hier stehen ab 22.30 Uhr mindestens zwei Safe-Space-Kolleginnen. Sie nehmen draußen die Frauen in Empfang, die aufgeregt, angetrunken und in schlechter Verfassung professionelle Hilfe suchen. In schlimmen Fällen benötigen sie Unterstützung nach einem sexuellen Übergriff.

Taschentücher und Wärmflasche, Speikübel und frische Kleidung – im Safe Space bieten 14 Sozialpädagoginnen, Therapeutinnen und Studentinnen der Sozialen Arbeit, was unmittelbar gebraucht wird. Zur Stärkung bei Hunger gibt es Bananen, Salzbrezln und Schokoriegel.

Safe Space auf der Wiesn: "Wir versuchen, jeder Frau in jeder Krise zu helfen"

Sozialpädagogin Kristina Gottlöber von der Fachstelle IMMA gehört zum Organisationsteam des Safe Space. Die 41-Jährige berichtet: "Wir machen einfach alles. Wir suchen verlorengegangene Partner und recherchieren detektivisch Hotels. Wir versuchen, jeder Frau in jeder Krise zu helfen. Und wenn eine einfach nur nach Hause will, aber Angst vor dem Weg hat. Wir begleiten sie sicher zur U-Bahn." Die AZ sprach mit ihr über die Wucht der Wiesn – und was Frauen manchmal unterschätzen.

Kristina Gottlöber (41) ist Sozialpädagogin. Sie arbeitet bei IMMA, der Kontaktstelle für Mädchenarbeit in der Humboldtstraße. Der Safe Space befindet sich hinter dem Schottenhamel-Zelt.
Kristina Gottlöber (41) ist Sozialpädagogin. Sie arbeitet bei IMMA, der Kontaktstelle für Mädchenarbeit in der Humboldtstraße. Der Safe Space befindet sich hinter dem Schottenhamel-Zelt. © Daniel von Loeper

AZ: Frau Gottlöber, in den ersten Wiesntagen haben sie mehr als 50 Frauen betreut. Wie war das beim ersten Schutzraum für Frauen – in einem Wohnwagen 2003?
KRISTINA GOTTLÖBER: Damals, im ersten Jahr, haben uns über die gesamte Wiesnzeit 28 Frauen gefunden. Sie wurden auch von der Polizei und den Sanitätern gebracht. Soviele Frauen betreuen wir 20 Jahre später an einem normalen Wiesnabend. Letztes Jahr haben wir uns um 450 Frauen und Mädchen gekümmert. Das ist eine andere Hausnummer.

"Das Eskalative der Wiesn ist ein Kitzel, kann aber eine Überforderung auslösen"

Wie erklären Sie diesen Bedarf?
Ich gehe davon aus, dass nicht mehr Übergriffe passiert sind. Unser Safe Space ist bekannter geworden. Wir haben zwar nur 35 Quadratmeter, wollen aber allen Mädchen und Frauen zur Seite stehen, die sich unwohl fühlen. Wir haben warme Decken und Stressbälle zum Kneten, wenn beispielsweise eine Frau, die früher einmal eine Vergewaltigung erfahren hat, auf der Wiesn durch einen sexuellen Übergriff einen Flashback erlebt. Mit dem Stressball kann die Kollegin versuchen, sie wieder ins hier und jetzt zu holen.

Gab es heuer besorgniserregende Vorkommnisse?
Leider müssen wir von vier Verdachtsfällen ausgehen, in den K.O.-Tropfen im Spiel gewesen sein könnten. Zwei Partyerfahrene, junge Australierinnen waren deswegen sehr aufgelöst. Eine hatte mit einem massiven Erinnerungsverlust zu kämpfen und wurde über mehrere Stunden von ihren Freunden gesucht.

Auch junge Frauen, die das Feiern in Clubs kennen, kann die Wiesn überrollen...
Das liegt auch an der Größe des Oktoberfests. So viele Menschen, so eine aufgeladene Stimmung. Die Wiesn ist anders als ein Club. Dieses Rauschhafte und ein bisschen Eskalative der Wiesn ist ja auch ein Kitzel, den viele genießen – und der die Wiesn ausmacht. Das kann aber auch in bestimmten Situationen eine Überforderung auslösen.

Sozialpädagogin Kristina Gottlöber: "Es ist selten, dass wir keine Lösung finden"

Um welche Uhrzeit werden Sie eigentlich am meisten gebraucht?
Um 22 Uhr gibt es das letzte Bier, um 22.30 Uhr hört die Musik auf und 23 Uhr schließen die meisten Zelte. Ab 22.30 Uhr kommen zu uns die meisten Frauen. Manche sind sehr aufgelöst und in Sorge, weil sie zum Beispiel ihren Partner verloren haben. Wir fragen dann bei Polizei und Ambulanz nach. Oder es gab einen heftigen Ehestreit. Manche Frauen haben psychische Probleme. Wenn eine Frau zu betrunken ist, übergeben wir sie den Sanitätern. In der Regel betreuen wir einen Fall immer zu zweit. Eine Mitarbeiterin setzt sich zu der verzweifelten Frau und hält Kontakt. Die andere geht an den Laptop und recherchiert.

Was ist ein typischer Fall?
Der Klassiker in Anführungsstrichen ist die ausländische Touristin, die ihre Gruppe verloren hat. Vielleicht noch ihr Handy oder die Handtasche mit der Zimmerkarte. Sie weiß dann nicht, wo sie übernachten soll. Wir sind sehr findig, suchen die Gruppe und ihr Hotel. Eine Dame konnte sich erinnern, dass das Hotellogo eine Krone hatte – Google-Bildersuche machte einen Erfolg möglich. Einmal bin ich gefühlt die ganze Nacht Münchner Parkgaragen abgelaufen. Das waren junge Leute, ohne viel Geld, die im Auto übernachten wollten. Sie hatten sich verloren. Die Frau wusste nicht mehr, wo das Auto steht. Gemeinsam haben wir es gefunden. Und der Partner saß schon drin und hat selig gschlummert.

Wer bei Ihnen strandet, ist an einem sicheren Ort. Sie telefonieren durch die halbe Welt, rufen alle Hotels an. Sie haben aber keinen Schlafplatz. Was passiert nach 1 Uhr nachts?
Es ist selten, dass wir keine Lösung finden. Auf der Wiesn können verloren gegangene Frauen jedoch nirgends übernachten. Die letzte Rettung ist die Münchner Bahnhofsmission am Hauptbahnhof. Für Frauen gibt es hier eine Übernachtungsmöglichkeit auf der Isomatte auf dem Boden. Das ist nicht besonders gemütlich, aber ein trockener, warmer und sicherer Ort.

Vergewaltigungen auf dem Oktoberfest in München: "Kann überall auf dem Gelände passieren"

In Verbindung mit Alkohol gibt es immer wieder Vergewaltigungen.
Das ist erschreckend. Tatsächlich kann das überall auf dem Gelände passieren. Auch der Heimweg ein Thema, auf dem Frauen manchmal gezielt verfolgt werden und sich sehr unwohl fühlen. Auf dem Weg zur S-Bahn-Station Hackerbrücke wurde einmal eine Frau ins Gebüsch gezerrt. Sie konnte sich aber zur Wehr setzten. Der Rest der Wiesn-Besucher ist oft in einem eigenen Film und kriegt nichts mit. Deshalb: Bitte sehen Sie nicht weg. Rufen Sie die 110 an, man kommt von der Wiesn direkt an der Wiesnwache heraus.

Welche sind Ihre Tipps für Mädchen und Frauen?
1. Nur mit voll aufgeladenen Handyakku auf die Wiesn gehen. 2. Eine Handynummer von Freunden separat auf einen Zettel schreiben und in den BH stecken oder die Nummer auf dem Arm oder sonstwo notieren. 3. Klaren Treffpunkt ausmachen, falls man sich verliert. Zum Beispiel immer zur vollen Stunde am Haupteingang eines der großen Zelte. Oder vor einem Fahrgeschäft, das man beim gemeinsamen Kommen gesehen hat. Ein Foto davon als Gedächtnisstütze ist gut. Wenn man sich verliert, kann das sonst ganz schwierig werden. Die Wiesn ist riesig, da kann man stundenlang laufen – und findet sich nicht.

Seit 19 Jahren, seit Ihrem ersten Praktikum, arbeiten Sie im Frauen-Schutzraum. Trotz unschöner Fälle, sind Sie immer noch ein Wiesn-Fan. Wieso?
Ich liebe die Wiesn, die Atmosphäre, diesen besonderen Charakter. Sie ist auch interkulturell interessant. An den Tischen ist man mit jedem per du. Ich habe die witzigsten Menschen kennengelernt ohne gleich Telefonnummern tauschen zu müssen. Die Wiesn hat etwas Verbindendes! Sie ist ein schöner Ort zum Flirten. Ich finde das super. Es gibt hier Heiratsanträge ohne Ende. Die Wiesn ist ein Ort, an dem sich Menschen wunderbar annähern können, solange alle Beteiligen einverstanden sind.

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