Oktoberfest abgesagt: München und das historische Wiesn-Vakuum
München - "Stell dir vor, es ist Wiesn, und keiner geht hin" – diese gern gerissene Zote notorischer Wiesn-Mäkler, wenn sie wieder mal die Trash-Trias "Voll! Laut! Teuer!" bekrittelt und stets das Aus für die 16-Tage-Sause herbeigesehnt haben, hat sich heuer quasi reziprok erfüllt: Stell dir vor, es ist keine Wiesn - und... ja, was denn nun eigentlich?
Abgesagte Wiesn: Weltstadt mit Schmerz
Was dieser eigentlich unglaubliche Ausnahmezustand mit München macht, bevor an diesem Samstag, Punkt 12 Uhr, die Bier-Party ganz einfach mal ausbleibt, ist schon bemerkenswert. Und seit Wochen in der ganzen Stadt zu verspüren. Ein kollektives Gefühl irgendwie zwischen tiefreichender Sinnkrise, urbanem Vakuum, Münchner Melancholie, Weltstadt mit Schmerz, viel, viel Geld, das verloren ist – und ungewohntem Bedeutungsverlust.
Die Fernsehbilder weltweit, die Fotos und Videos der World-Wide-Wiesn im Netz mit Braurössern, Böllerschüssen, Trachten-Wahnsinn und den obligatorischen zwei oberbürgermeisterlichen Schlägen im Schottenhamel – nein, nichts davon gibt es heuer.
Nicht dass die Stadt jetzt in abgrundtiefer Trauer versinken und schwarz tragen würde, das wäre defätistisch und auch zutiefst unmünchnerisch. Ebenso wie die überschäumende Freude ja auch sehr unmünchnerisch ist, was man etwa daran sieht, wenn die Bayern wie immer Meister geworden sind und die Freude der Fans jedes Mal eher der Erleichterung gleicht, dass die Schale eh bloß wieder da ist, wo sie ohnehin dauerhaft hingehört – nach dem Tenor: Hammas doch wieder. . .
Nein, die Atmosphäre in der Stadt gleicht einer einzigen Wehmuts-Starre, einem respektablen Depressiönchen, sobald darüber gegrübelt wird.

Auch das Wetter spielt mit – Was für ein Drama
Ein bisserl vergleichbar ist die Situation - und da wären wir wieder bei den Bayern - mit dem verlorenen Finale dahoam 2012, als am verkaterten Folgetag die Stadt wirkte, als hätte sich mentaler Mehltau wie zäher Kleister über sie gelegt. Es gab, unglaublich, unfassbar und einfach ums Verrecken nichts zu feiern – trotz besten Corso-Wetters. Was für ein Drama.
Tja, und so wie es ausschaut, würde eben ausgerechnet auch jetzt, an diesem Samstag, das Wetter zu allem Übel mitspielen beim Countdown zum großen "O'zapft is" im Schottenhamel. Wenn's wenigstens wie aus Kübeln schütten würde, graupeln, hageln oder zumindest die Welt ein klein wenig untergehen würde, irgendwas, dann wär's für den Moment ja leichter zu ertragen. Aber so: bestes Anzapfwetter. Aber ums Verrecken keine Wiesn. Was für ein Drama.
Klar, könnte man sagen, in diesem sehr sonderbaren Jahr heuer finden auch so viele andere Dinge, in Clubs, bei Konzerten, im Urlaub oder Stadion nicht statt. Heuer halt einfach mal nicht. "Scheiß drauf, wurscht?", um das wunderbar bauchgefühlige wie geflügelte Wort von OB Dieter Reiter zu bemühen? Nein, so einfach ist das Ganze halt auch nicht. Wurscht ist nämlich gar nix.
Und hier kommt ein weiterer sehr münchnerischer - und sympathischer - Ansatz der Stadt und seiner Bewohner zum Tragen, die den Wiesn-Ausfall zwar zur Kenntnis nehmen, ihn ansonsten aber, wie's so schön heißt, erst mal gar nicht groß ignorieren.
Freilich wird heute angezapft, bloß halt nicht auf der Wiesn
Am Trefflichsten zelebriert diese Haltung Wiesn-Wirt Michael Käfer, der einfach seine "Koa Wiesn" ausgerufen hat, um in seinem Bogenhauser Stammhaus eine abstands- und hygienetechnisch einwandfreie Wiesn-Sause steigen zu lassen. Wie auch immer die dann aussehen mag.
Andere, wie Wiggerl Hagn in seiner Hirschau, lassen "Mama Bavaria" Luise Kinseher ein Fassl anzapfen, alle Innenstadtwirte und großen Wiesn-Wirte zusammen feiern ab Wiesn-Nicht-Start am Samstag heuer die neu kreierte "Wirtshaus-Wiesn". Selbst Alt-OB Christian Ude juckt es wieder – er zapft an im Schillerbräu im Bahnhofsviertel.
Auch wenn heuer nichts ist, wie es war, wird also trotzdem was sein, auch wenn es weder dasselbe ist noch ein irgendwie gleichwertiger Ersatz sein kann. Aber dass gar nichts ist? Kann nicht, darf nicht sein.
Auch und gerade die junge Generation glänzt mit diesem rührigen wie manchmal auch bizarren Trotz-Aktionismus. Wenn etwa junge Leute aus nostalgischen Gründen ein großes Weißwurstfrühstück in Tracht an den Stufen der Bavaria zelebrieren. Oder "Fridays for Future"-Aktivisten mit Blasmusik zur Wiesn ziehen – um dort Bier auszuschenken. Alkoholfreies freilich. In Memoriam – zur Trauerbewältigung.
Wiesn-Absage: Vielen ist tatsächlich zum Heulen zumute
Meine 18-jährige Tochter, die Jahr für Jahr einen Wiesn-Countdown auf ihrem Handy laufen hat, beschreibt ihren Wiesn-Schmerz ganz lapidar so: "Ich könnte heulen." Was in ihrem Fall absolut glaubhaft wirkt. Mit diesem Gefühl, so viel ist klar, steht sie beileibe nicht alleine da in der Stadt.
Mal abgesehen von derlei im Grunde ja harmlosen Stimmungstiefs gibt's freilich viele, denen tatsächlich zum Heulen zumute ist. Für Marktkaufleute und Schausteller ist das Wiesn- und Volksfest-Aus heuer eine echte Katastrophe. Bei ihnen geht's längst an die Existenz.
Auch die gut gemeinte Veranstaltung "Sommer in der Stadt" wirkt da eher als Placebo, ändert an der verheerenden Situation der Schausteller kaum etwas. Sicherlich, am Königsplatz oder am Olympiagelände funktioniert's einigermaßen. Am für solcherlei Festivitäten eher suboptimalen Wittelsbacherplatz dagegen nicht – er ist bereits wieder leergeräumt. Wiesn-Stimmung auf diesem wochenlangen Dauer-Volksfest? Nunja, eher eine seltsame Melancholie, die ein bisserl an diese ganz eigene Stimmung am Wiener Prater erinnert. Ganz ohne Schmäh.
Der Wiesn-Lockdown reißt eine Lücke ins Stadtleben
Nein, kein Zweifel, der Wiesn-Lockdown heuer reißt eine herbe Lücke ins Stadtleben, der den klassischen Münchner Jahreskreislauf mit Pfingst-, Sommerferien, Wiesn und anschließend quasi schon Advent nebst Jahresendrallye völlig aus dem Tritt geraten lässt Oder anders gesagt: Ohne die Wiesn könnt's schon ein sakrisch zacher Herbst werden heuer in der Weltstadt mit Schmerz – mit dieser sehr greifbaren Melange zwischen Münchner Melancholie, Wiesn-Vakuum und kollektiver Krise.
Ein wahres Drama dahoam.
Der Autor wird erstmals seit Jahrzehnten Zeit für Privates haben am eigentlichen ersten Wiesn-Samstag – und in die Schwammerl gehen.
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