Meine erste Wiesn: Eine 93-Jährige erinnert sich

Die Ottobrunnerin Barbara Kerling (93) ging als Vierjährige mit ihrer Familie zum ersten Mal auf die Wiesn – für die AZ erinnert sie sich.
von  Nina Job
Az-Leserin Barbara Kerling ging 1925 zum ersten Mal auf die Wiesn.
Az-Leserin Barbara Kerling ging 1925 zum ersten Mal auf die Wiesn. © ho

München – Das Oktoberfest heute und in den 20er Jahren, dazwischen liegen Welten. Barbara Kerling (93), gebürtige Ottobrunnerin, kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie es damals war. Der AZ erzählte sie von ihren ersten Besuchen als Kind:

„Mit vier Jahren war ich das erste Mal auf der Oktoberwiese. Ich weiß es noch genau, es war ein Samstag. Mein Vater war Bauführer und alle vom Bau arbeiteten samstags immer bis Mittags. Während er in der Bierbude auf uns wartete, machte sich meine Mutter mit uns vier Kindern von Ottobrunn auf den Weg. Wir fuhren mit der Dampflokomotive bis zum Ostbahnhof und dann mit der Tram zur Festwiese. In die Stadt zu fahren, war immer etwas ganz Besonderes. In Ottobrunn, wo wir wohnten, gab es damals noch gar nicht. Ich bin mit meiner Mutter jeden Samstag nach München gefahren.

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Dann ging’s ins Kaufhaus Uhlfehlder, es war das erste, das eine Rolltreppe hatte. Wir haben immer auf dem Viktualienmarkt eingekauft und hinterher haben wir uns im Bratwurstherzl belohnt. Am Vortag, bevor wir zur Oktoberwiese gefahren sind, hat meine Mutter daheim immer ein Göckerl geschlachtet. Das wurde dann roh in Pergament eingewickelt und mitgenommen. Plastiktüten gab es damals noch keine. Das Hendl haben wir dann in der Hühnerbraterei für ein paar Pfennige grillen lassen. Bei uns daheim gab’s Huhn immer nur mit Knödelteig gefüllt und gedünstet. Wenn das Hendl fertig war, haben wir uns draußen hingesetzt und es genüßlich verspeist. Mein Vater aß vom Teller und die Mutter und wir Kinder direkt aus dem Pergmentpapier.

Danach sind wir zu sechst losgezogen. Ich war die Jüngste. Wir Mädchen haben ganz normale Röckerl oder Kleider angehabt und Strümpfe mit Strapsen. Die Gummibänder hatten Löcher und wurden am Leibchen befestigt. Die Buben haben auch solche Leibchen getragen. Die erste lange Hose gab’s erst zur Kommunion. Meine Mutter ging in einem langen, festen Rock mit riesigen Taschen aufs Oktoberfest, mein Vater trug Hosen aus Manchester-Stoff und Schnürstiefel mit Ledergamaschen. Tracht hat man damals in München nicht so getragen. Für meinen Bruder waren die Steilwandfahrer das Größte, ich fand die Wasserrutschbahn toll. Wenn wir Achterbahn gefahren sind, musste mich mein Vater ganz fest halten. Ich war so zaundürr und leicht, dass ich sonst herausgeflogen wär’.

Das Hippodrom war damals noch eine echte Reithalle: Draußen stand ein Animateur im Reitergewand, der die Leute ins Zelt lockte. Wir setzten uns hinter die Holzbande und sahen den Reitern in der Mitte zu. Einmal, während ich dort saß, ist ein freches Pferd zu mir gekommen und hat meinen ganzen Eisbecher aufgefressen. Ich war sehr erschrocken. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in den Bierbuden jemals keinen Platz bekommen hätten. Selbst am Maurer-Montag, dem sogenannten blauen Montag, waren immer viele Bänke frei. Zu der Zeit gab es noch keine Bretterböden, der Boden bestand aus Wiese. Die war nach ein paar Tagen so trocken, dass es in der ganzen Bierbude gestaubt hat.

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Betrunkene sah man damals so gut wie gar nicht, auch Polizisten gab es nur wenige. Das Bier wurde aus Keferlohern (Steinkrügen) getrunken, Glaskrüge kamen erst viel später. Unser Vater hat mir und meiner großen Schwester eine Mark gegeben und damit sind wir alleine losgezogen. Für die Mark gab es eine Menge: ein Eis in der Tüte, ein paar Lose vom Glückshafen und noch mehr. Nach unserem Wiesn-Besuch sind wir oft mit dem Taxi nach Hause gefahren, das war auch nicht recht viel teurer als mit Tram und Zug. Im Taxi gab es damals noch eine Glasscheibe als Trennwand, hinten saß man sich gegenüber.

Seit meinem ersten Wiesnbesuch mit vier Jahren sind wir alle Jahre aufs Oktoberfest gegangen – außer während des Krieges. Danach bin ich mit meinem Mann gegangen und später mit meinen Kindern. Nach dem Krieg konnte man auf der Theresienwiese noch parken, dort, wo auch die Schausteller ihre Autos abgestellt hatten.“ Die Erinnerungen an Barbara Kerlings letzten Oktoberfestbesuch vor etwa 15 Jahren sind leider keine schönen. „Mein Mann, der 1993 gestorben ist, war auf einem Augen blind. In einem Zelt ist er aus Versehen gegen einen Kinderwagen gestoßen. Die waren damals schon verboten, aber das wussten wir nicht. Der junge Vater hat meinen Mann übel beschimpft. Wir sind dann heimgefahren und haben nicht einmal mehr etwas essen können, so sehr haben wir uns über den Vorfall geärgert. Seitdem war ich nicht mehr. Aber es liegt nicht an diesem einen Erlebnis. Ich vertrage nur die Menschen und den Lärm nicht mehr so gut. Bis auf dieses eine Mal war es immer nett auf der Oktoberwiese.“

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