Nur Bürgergeld und keine Arbeit? Das sagt eine ukrainische Familie in München zu den Vorwürfen
München - In einer kleinen Dachgeschosswohnung in Germering steht das Abendessen schon bereit. Halyna und Mykhailo Ustynovskyi haben für ihre zwei Kinder Diana (18) und Daniil (12) ukrainische Fleischpflanzerl, einen Salat und Gebäck aufgetischt, das die vierköpfige Familie an ihre Heimat erinnert. Ganz gewöhnt haben sie sich an ihr neues Zuhause im Münchner Westen noch nicht. Vor vier Jahren hatten sie noch ein großes Haus in Mykolajiv im Süden der Ukraine. Die Kinder gingen dort zur Schule, die Mutter arbeitete als Psychologin und der Vater in der Getreidebranche.
Doch dann veränderte sich ihr Leben schlagartig: Die Russen griffen an und legten große Teile der Region in Schutt und Asche. Nur knapp 70 Kilometer trennen ihre Heimatstadt von Cherson. Dort verläuft die Frontlinie. Umliegende Ortschaften am Ufer des Dnepr wurden zum Teil okkupiert. Halyna tippt auf ihrem Handy und zeigt Bilder vom Ausmaß der Zerstörung. Spielplätze gleichen einem Schlachtfeld, von Wohnhäusern bleiben nur Trümmer. Die Schule von Diana wurde bombardiert, die Arbeitsstelle von Mykhailo gibt es nicht mehr. Dort haben jetzt die Russen das Sagen.
Aufbruch in ein neues Leben: Von der Ukraine über Polen ging es nach München
"Wir sind im Februar 2022 geflüchtet – ich dachte erst, nur für ein Wochenende", erzählt Halyna. Sie spricht nahezu fehlerfreies Deutsch. Genauso wie die anderen aus der Familie. Damals alles – inklusive ihrer Angehörigen – hinter sich zu lassen, war eine schwere Entscheidung.
"Mein Papa sagt immer, er ist ein starker Mann und will die Heimat verteidigen", so Halyna. Doch die Flucht war die einzige Chance. Danii ist Diabetiker. Als Apotheken zum Teil nicht mehr aufgesperrt haben, befürchteten die Eltern, dass sie für ihren Zwölfjährigen kein Insulin mehr bekommen.

Deshalb machten sie sich auf nach Lviv in der Westukraine – doch die Stadt war aufgrund des großen Ansturms überlastet. Letztlich ging es weiter in die polnische Stadt Breslau. "Aber Polen war voll", sagt Mykhailo. Dort verbrachten sie die erste Zeit in einer Turnhalle, ergänzt Diana. Währenddessen betritt der junge Daniil den Raum und stellt sich auf Deutsch vor. Er will heimlich etwas Süßes aus dem Kühlschrank stibitzen – doch durch kommt er damit nicht.
Schließlich ging es für die Ustynovskyis weiter nach München. Eine Helferin nahm die Familie vorerst in eine kleine Wohnung auf. Nachdem es dort auf Dauer zu eng gewesen ist, fanden die Vier über eine Putzfrau einen Büroraum an der Leopoldstraße. Sieben Monate verbrachten sie dort. "Es war so schwer, eine Wohnung zu finden", so Diana.
Nach monatelanger Suche: Eltern finden Arbeit und Tochter Ausbildungsplatz
Im Oktober 2023 zahlten sich die Bemühungen aus. Die Ukrainer fanden ihre eigene Bleibe. Eine Zweizimmerwohnung etwas außerhalb der Stadt in Germering. Luxus sieht anders aus – doch die Familie ist froh, erstmal ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben. Die Eltern schlafen im Wohnzimmer mit offener Küche, die 18-jährige Diana mit Daniil in einem Zimmer.
Mehr als 1600 Euro Miete kostet die Wohnung. Um sich die Bleibe selbst zu finanzieren, wollten sich die Vier so schnell wie möglich integrieren. Über Videos auf YouTube und später Sprachkurse lernten sie Deutsch. Ende 2023 bekam Misha, so Mykhailos Spitzname, einen Job als Paketzusteller bei Amazon. Er arbeitet oft bis spätabends. Aus der Psychologin Halyna wurde eine Kinderpflegerin. "Ich konnte mir nie vorstellen, dass mir der Job so viel Spaß macht", sagt sie.
Tochter Diana hat wiederum nach einem Jahr an einem Gymnasium einen Ausbildungsplatz gefunden. "Ich will zahnmedizinische Fachangestellte werden", erzählt sie. "Eigentlich wollte ich erst noch mehr Deutsch lernen. Das ging aber nicht. Mir wurde gesagt, dass ich entweder arbeiten oder eine Ausbildung machen soll."
Debatte um Bürgergeld und Sozialleistungen: "Mein Mann wollte immer arbeiten"
Die gerade vor der Bundestagswahl aufkochende Debatte über ukrainische Staatsbürger, die nicht arbeiten und Bürgergeld beziehen, ist auch Halyna aufgefallen. Zu Unrecht werfe man dabei alle in einen Topf. "Mein Mann konnte früher kein Wort Deutsch, aber er wollte immer arbeiten – ohne Job ist er nicht er selbst", sagt die Mutter.
Gerade in der Anfangszeit sei es jedoch schwer gewesen, in den neuen Alltag zu starten. "Die ganze Zeit" seien schlechte Nachrichten aufgeschlagen. Halyna habe nächtelang geweint, in ständiger Angst um ihre Eltern in der Ukraine.
"Traurig machen" die Familie Beiträge mit Hassbotschaften auf Facebook. "Manche schreiben, wir Ukrainer sollten nach Hause gehen", so die Mutter. "Das geht aber nicht – wir können nicht dorthin", ergänzt Mykhailo. Ihr Haus steht wohl noch, "aber sie bombardieren jeden Tag".
Hassbotschaften stimmen Familie traurig – trotzdem verlieren sie nicht die Zuversicht
Trotz radikaler Ausweisungsforderungen mancher Politiker sind die Ustynovskyis den Deutschen sehr dankbar. "Das war so eine große Hilfe vom Land", meint Halyna. "Uns haben so viele Leute geholfen. So eine Gastfreundschaft gegenüber Fremden gibt es in der Ukraine nicht."

Mittlerweile haben die Vier neben Schule und Arbeit auch viele Freunde gefunden. Halyna geht nach der Arbeit zum Zumba und Yoga, Daniil spielt Basketball, Misha radelt nach Feierabend und Diana tanzt in einer Gruppe unter anderem zu Hip-Hop-Musik.
Selbst mit der bayerischen Kultur haben sie sich schon auseinandergesetzt. So besuchten sie die Wiesn bereits in Dirndl und Lederhose. Und auch den Hinweis, dass es im Freistaat keine Frikadellen, sondern nur Fleischpflanzerl gibt, notiert sich Halyna gleich auf ihrem Handy.
"Hoffentlich geht der Krieg bald zu Ende und die Russen gehen nach Hause", sagt sie. Doch wenn die Ustynovskyis so fleißig weitermachen, haben sie bis dahin vielleicht schon eine neue Heimat gefunden.
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