NSU-Prozess: Familie eines Opfers klagt an

Als Semiya Simseks Vater erschossen wurde, hatten Ermittler ihre Mutter im Verdacht. Dabei waren Nazis die Täter. In einem Buch erzählt sie davon  
Natalie Kettinger |
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Semiya Simsek und ihr Bruder Kerim sind Nebenkläger im NSU-Prozess. Ihr Vater Enver Simsek (†39) war das erste von zehn Opfern der rechten Terror-Organisation.
Daniel von Loeper, Polizei Semiya Simsek und ihr Bruder Kerim sind Nebenkläger im NSU-Prozess. Ihr Vater Enver Simsek (†39) war das erste von zehn Opfern der rechten Terror-Organisation.

Als Semiya Simseks Vater erschossen wurde, hatten Ermittler ihre Mutter im Verdacht. Dabei waren Nazis die Täter. In einem Buch erzählt sie davon

AZ: Frau Simsek, am 17.April beginnt der Prozess gegen die Mörder Ihres Vaters. Der Sitzungssaal ist klein. Werden Sie dabei sein können?

SEMIYA SIMSEK: Als Nebenkläger haben mein Bruder und ich feste Sitzplätze. Aber mein Onkel, der jahrelang für uns da war und einmal als Hauptverdächtiger galt, muss damit rechnen, dass er keinen Platz bekommt. Die Opferfamilien kommen wieder zu kurz.

Die tödlichen Schüsse fielen am 9.September 2000. Sie waren damals 14 Jahre alt. Wie haben Sie davon erfahren?

Am 10.September morgens um 4 Uhr weckte mich die Betreuerin im Internat. Ich war noch so verschlafen, dass ich nicht weiter nachgefragt habe. Ein Cousin meines Vaters und ein Bekannter haben mich abgeholt. Sie sagten, mein Vater sei krank und liege deshalb in Nürnberg im Krankenhaus. Kurz vor Nürnberg hieß es dann, er sei verletzt worden. Aber was wirklich passiert war, habe ich erst auf der Intensivstation erfahren.

Von den Ärzten?

Nein. Bevor ich die Intensivstation betreten durfte, kam schon der erste Ermittler, der mir Fragen gestellt hat: Ob mein Vater eine Waffe bei sich hatte, ob es bei uns zu Hause eine Waffe gebe, ob wir Feinde haben. Ich habe gesagt: Mein Vater trägt nie eine Waffe – höchstens eine Gartenschere oder ein Taschenmesser für die Blumen. Aber verstanden, was passiert ist, habe ich erst, als ich auf der Intensivstation war und die Schusswunden gesehen habe.

Ihre Mutter war zu diesem Zeitpunkt nicht im Krankenhaus. Warum nicht?

Sie war auf der Polizeistation und wurde vernommen. Sie kam erst nachmittags an.

Als ihr Vater am 11.September an seinen Verletzungen starb, galt Ihre Mutter als eine der Hauptverdächtigen.

Genau, weil in Deutschland – statistisch gesehen – Männer oft von ihren Ehefrauen ermordet würden, hieß es. Wegen des Geldes. Deshalb hat man meine Mutter verdächtigt, den Mord gemeinsam mit ihren Brüdern geplant zu haben.

Wie wurde ermittelt?

Mit Methoden, die einfach Vertrauen zerstören sollten. Man hat unser Auto verwanzt, um herauszufinden, wie mein Onkel und meine Mutter die Tat geplant haben. Man hat meiner Mutter das Foto einer fremden blonden Frau vorgelegt, die angeblich die Geliebte meines Vaters war und mit der er angeblich Kinder hatte. Zum Glück ist meine Mutter nicht darauf reingefallen. Eine Tante von uns hatte damals ein uneheliches Kind. Sie wurde gefragt, ob das Kind von meinem Vater sei. Diese Vernehmungen sind an die Grenzen gegangen.

Sie sind auch vernommen worden.

Ja, öfters, weil ich mit ihm manchmal zur Blumenbörse nach Holland gefahren bin. Die Polizisten wollten wissen, wo wir Rast gemacht haben und ob ich mich an komische Menschen erinnern kann. Uns wurden Bilder gezeigt von Menschen, die wir nicht kannten, die irgendwo im Knast saßen und irgendwelche Aussagen gemacht haben.

Welche Erklärung hatten Sie selbst für den Mord?

Am Anfang dachte ich, es könnte jemand sein, der neidisch auf meinen Vater war. Mein Vater kam 1986 nach Deutschland, hat in kürzester Zeit viel erreicht und gutes Geld mit seinem Blumengroßhandel verdient. Er hatte alles, was man sich wünschen konnte und seine Familie stand hinter ihm. Die Ehe meiner Eltern war sehr glücklich.

Hatten Sie Angst?

Natürlich. Wir wussten ja nicht, wer der Täter ist. Es hätte ja sein können, dass er es auch auf uns abgesehen hat.

Was ist in Ihnen vorgegangen, als der zweite und der dritte Mord geschehen sind?

Der Druck auf meine Mutter und meine Onkel war nicht mehr so groß. Außerdem wussten wir: Okay, es kann niemand aus unserem Umkreis sein, weil wir keinerlei Verbindung zum zweiten und dritten Opfer hatten.

Ihre Familie hat die Ermittler darauf hingewiesen, dass sie einen rechtsradikalen Hintergrund für möglich hält.

Ja, wir haben das sehr früh angesprochen. Und man hat sich den rassistischen Block auch angeguckt – aber den türkischen: die Grauen Wölfe, die PKK. Im deutschen rechten Milieu hat man zu wenig geguckt. Da hat man gesagt: Wir finden keine Anzeichen. Die ewige Ausrede! Die Vorurteile gegenüber uns Türken waren wohl so groß, dass sie jahrelang die Ermittlungen beeinflusst haben.

Wie haben Sie nach dem Tod Ihres Vaters gelebt?

Vorher hatten wir keine finanziellen Sorgen, aber dann war der Haupternährer weg und wir sind sozusagen zum Hartz-IV-Fall geworden. Das ging vielen der betroffenen Familien so. Wir hatten noch das Glück, dass unsere Großfamilie uns aufgefangen hat.

Wie haben Sie vom Selbstmord der Täter erfahren und davon, dass Beate Zschäpe sich gestellt hat?

Das war Zufall. Wir hatten uns bei einem Onkel getroffen, weil wir uns ein Spiel der türkischen Nationalmannschaft anschauen wollten. So gegen 20Uhr kam mein Bruder und sagte: Ich hab’ da was im Radio gehört. Aber es hat fünf Tage gedauert, bis die Ermittler zu uns kamen.

Hat sich je ein Behördenvertreter für die falschen Verdächtigungen entschuldigt?

Nein. Gestern hat mir aber der bayerische Innenminister Herrmann bei einem Treffen gesagt, dass ihm das alles sehr leid tue. Er hat für uns ein offenes Ohr. Das finde ich gut.

Warum haben Sie sich das Video des NSU angesehen?

Ich wollte wissen, was da gelaufen ist. Für mich war es einfach unglaublich, wie Menschen jahrelang im Untergrund leben und gleichzeitig rauben und morden können. Mit diesem Video wurde mir klar, wie krankhaft Menschen sein können. So besessen von einer Ideologie, dass sie sich darüber lustig machen, wie ein anderer leidet und stirbt und dann machen sie noch Fotos davon und Witze darüber.

In der Folge wurden viele Ermittlungspannen bekannt.

Wenn ich daran denke, werde ich wütend. Da wusste die rechte Hand nicht, was die linke macht. Die Behörden haben einfach nicht kooperiert. Wie kann das sein? Gab es vielleicht wirklich Menschen, die davon wussten? Du liest, dass Akten vernichtet wurden. Du überlegst, warum die Morde ausgerechnet 2006 aufhörten, als ein V-Mann des Verfassungsschutzes ins Spiel kam. Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin, aber ich habe das Vertrauen in die Behörden verloren. Sie haben versagt.

Was erwarten Sie sich vom Prozess?

Wir und die anderen Familien Freude uns fast auf diesen Prozess, weil wir jahrelang darauf gewartet haben. Wir wussten jahrelang nicht, wer’s war. Wir haben jahrelang Fragen mit uns herumgetragen. Jetzt hoffen wir, dass wir Antworten auf unsere Fragen kriegen. Und dass wirklich alle Helfershelfer bestraft werden. Jeder, der etwas wusste.

Sie sind eine der wenigen Hinterbliebenen, die sich öffentlich äußern. Warum geben die anderen keine Interviews?

Es gibt Familien, die dazu psychisch nicht in der Lage sind. Es gibt Familien, die ein neues Leben angefangen haben und mit der Sache nur noch das Notwendigste zu tun haben möchten. Es gibt aber auch Familien, die Angst haben.

Und Sie?

Ich möchte zum Prozessbeginn öffentlichen Druck erzeugen und ich will meinem Vater ein Gesicht geben – deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.

Wie war Ihr Vater?

Er war ein sehr ausgeglichener, liebevoller Mensch, ein guter Familienvater und er war – das kann ich seitdem ich selbst verheiratet bin gut einschätzen – sehr pflegeleicht. Er war sehr fleißig und hat 70 bis 80 Stunden pro Woche gearbeitet. Im Nachhinein denke ich mir oft: Wie hat er das geschafft?

 

 

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