Neue Missbrauchsstudie: Mindestens 497 Opfer im Münchner Erzbistum

München - Es wird ernst im Erzbistum München und Freising: Das mit Spannung erwartetes Gutachten zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Diözese ist jetzt veröffentlicht worden.
Enormes Fehlverhalten des Ex-Erzbischofs Wetter
Schon für 2010 war ein ähnliches Gutachten von der Kirche in Auftrag gegeben worden, das allerdings nie veröffentlicht wurde. Dieses Mal ist es anders sein – die neue Expertise soll auf den Ergebnissen von damals aufbauen. Die neue Studie wirft dem früheren Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, 21 Fälle von Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch vor.
Mindestens 497 Opfer in München und Freising
So stellte es der Jurist Martin Pusch bei der Vorstellung des Gutachtens in München dar. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Die Studie zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising listet mindestens 497 Opfer auf.
Dabei handele es sich überwiegend um männliche Kinder und Jugendliche im Zeitraum zwischen 1945 und 2019, teilte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) mit. Sie hatte das Gutachten im Auftrag der Erzdiözese erstellt. Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Studie - darunter 173 Priester und 9 Diakone. Allerdings sei von einer deutlich größeren Dunkelziffer auszugehen.
Zahlreiche Kleriker blieben trotz Vorwürfen im Amt
Weiter kommt die Studie zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien ungeachtet dessen wieder in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise dies sei geduldet worden, teilte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) mit.
Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach "einschlägiger Verurteilung", wie Rechtsanwalt Martin Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern "gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter" unterblieben.
Schlechtes Zeugnis für die Kirche
Das Gutachten stellt der katholischen Diözese ein schlechtes Zeugnis aus. Auch in jüngster Zeit habe kein "Paradigmenwechsel" mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Pusch. Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht. Die "Wahrnehmung der Geschädigtenbelange" sei "auch nach 2010 unzulänglich". Pusch sieht ein "generelles Geheimhaltungsinteresse" und den "Wunsch, die Institution Kirche zu schützen".
Missbrauchs-Skandal: Protest am Marienplatz in München
Auf dem Münchner Marienplatz protestierten Kirchenkritiker und Betroffene mit der Figur eines in einer goldenen Hängematte selig schlafenden Bischofs gegen die ihrer Ansicht nach viel zu langsame Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Der Münchner Priester Wolfgang F. Rothe unsterstütze die Aktion.
Immer mehr Fälle werden öffentlich
Kritiker werfen Bischöfen überall in Deutschland vor, nicht genug getan zu haben, um Kinder in der Kirche vor Missbrauchstätern zu schützen – oder sogar Fälle systematisch vertuscht zu haben. Seit 2010 der Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg in Berlin bekannt wurde, sind immer mehr Fälle öffentlich geworden.
Und das hat Folgen: Kaum eine Institution finden die Deutschen nach einer Umfrage inzwischen so wenig vertrauenswürdig wie die katholische Kirche. Wie das Meinungsforschungsinstitut Forsa am Tag vor der Veröffentlichung des Gutachtes mitteilte, genießen von insgesamt 36 untersuchten Institutionen nur noch Manager, der Islam und Werbeagenturen weniger Vertrauen.
Vertrauen in die Kirche sinkt
Nach der Umfrage haben nur noch zwölf Prozent der Bundesbürger großes Vertrauen zur katholischen Kirche. Vor fünf Jahren waren es noch 28 Prozent. Das Vertrauen zum Papst war in der Amtszeit von Papst Benedikt auf 24 Prozent gesunken, nach der Amtsübernahme durch Papst Franziskus aber zeitweise (2015) wieder auf 60 Prozent angestiegen.
Bundesweite Zahlen
Im Herbst 2018 hatte die katholische Kirche die sogenannte MHG-Studie und damit Zahlen zu sexuellem Missbrauch öffentlich gemacht. Demnach sind bundesweit in den Personalakten von 1946 bis 2014 insgesamt 1.670 Kleriker wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt worden. Es gab 3.677 Opfer. Im Jahr 2020 machten die Ordensgemeinschaften öffentlich, dass sich bei ihnen weitere 1.412 Betroffene gemeldet haben. Aus Sicht einiger Experten und von Kirchenkritikern ist das aber nur die Spitze des Eisbergs.