Interview

Neue HMTM-Präsidentin Grün: "Wir können keine Zeit verlieren!"

AZ-Interview mit Lydia Grün: Die neue Präsidentin der Musikhochschule München über ihre Pläne, ihr Verständnis von "transparenter Führung" und die Schatten der Vergangenheit.
Thilo Komma-Pöllath |
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Die 46-Jährige studierte Musikwissenschaft, Publizistik und Kommunikationswissenschaften sowie Journalistik in Leipzig und Berlin. Zuletzt lehrte Lydia Grün Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold. Dort war sie auch stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte.
Die 46-Jährige studierte Musikwissenschaft, Publizistik und Kommunikationswissenschaften sowie Journalistik in Leipzig und Berlin. Zuletzt lehrte Lydia Grün Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold. Dort war sie auch stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte. © Adrienne Meister

München - Die Hochschule für Musik und Theater München (HMTM) gibt es seit 1846, aber so etwas wie Sie hat es zuvor noch nicht gegeben: Lydia Grün, geboren 1976 in Essen, ist seit dem 1. Oktober die neue und erste Präsidentin der weltweit renommierten Institution. Die Musikwissenschaftlerin und Publizistin gilt als progressive Kulturmanagerin, die die HMTM aus der Krise führen soll. Ihre Agenda ist in vielerlei Hinsicht ein Neuanfang nach den Negativschlagzeilen um Ex-Präsident Siegfried Mauser und die stockende Sanierung des Hochschulgebäudes. Ein Antrittsgespräch über transparente Führung und die Schatten der Vergangenheit.

AZ: Frau Grün, die Musikhochschule München war in den letzten Jahren die schlagzeilenträchtigste Kunsthochschule Deutschlands. Warum wollten Sie sich das antun?
LYDIA GRÜN: Mich interessieren schon immer Stellen, Orte, Räume, wo es richtig was zu tun gibt, wo Bewegung drin ist. Und das habe ich hier gesehen. München ist für mich ein Ort, an dem auf allerhöchstem Niveau gearbeitet wird. Es ist extrem aufregend, und es prickelt jeden Morgen, wenn ich von der U-Bahn komme und über den Königsplatz auf unser Hauptgebäude zulaufe. Die Gelegenheit, hier meinen Hut in den Ring zu werfen, um gemeinsam Ideen für die Zukunft des Kulturlebens zu entwickeln, wollte ich mir auf gar keinen Fall entgehen lassen.

Es gab niemanden, der Sie abhalten wollte?
Einige Kolleginnen und Kollegen haben gesagt: "Du bist tollkühn!" Ihnen habe ich gesagt, es sei jetzt die Zeit, im besten Sinne tollkühn zu sein. Vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen wie dem Klimawandel, den Folgen der Corona-Krise, dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise geht es nicht darum, dass man sich in gemütliche Ecken verdünnisiert, sondern darum, nach vorne zu gehen, das Veränderungsdenken, das gerade überall sprießt, mit zu prägen.

Das Gebäude der Musikhochschule an der Arcisstraße ist ein mehrfach belasteter Ort - einerseits wegen der Skandale der letzten Jahre, aber auch wegen der Vergangenheit des Nazi-Gebäudes, in dem 1938 Hitler, Mussolini, Daladier und Chamberlain das "Münchner Abkommen" unterzeichneten. Daher dient der Bau gelegentlich auch für Dreharbeiten, wie hier für die Netflix-Produktion "Munich".
Das Gebäude der Musikhochschule an der Arcisstraße ist ein mehrfach belasteter Ort - einerseits wegen der Skandale der letzten Jahre, aber auch wegen der Vergangenheit des Nazi-Gebäudes, in dem 1938 Hitler, Mussolini, Daladier und Chamberlain das "Münchner Abkommen" unterzeichneten. Daher dient der Bau gelegentlich auch für Dreharbeiten, wie hier für die Netflix-Produktion "Munich". © dpa/Sven Hoppe

Ihr Statement zu Ihrem Amtsantritt enthielt einige Schlüsselbegriffe, für die die HMTM bisher nicht bekannt war: "Transparenz", "Umsicht" oder "diverse Gesellschaft". Das konnte man auch als Grundsatzkritik an ihren Vorgängern lesen?
Da denke ich weiter: Das sind die Hausaufgaben, vor denen wir generell im Kulturleben stehen. Ich war lange in dem Bereich der Kulturvermittlung unterwegs. Da habe ich gelernt, wie wichtig es ist, diese Werte zu leben. Bei Inklusion und Diversität, aber auch beim Thema Nähe, Respekt, Distanz, gibt es ja kein Musterrezept, keine Checkliste, die man einfach abarbeiten kann. Hier geht es um Haltung und um eine neue Perspektive auf den Umgang miteinander. Sie müssen aber bei jeder Gelegenheit prüfen: Leben wir das auch?

"Ich spüre eine Aufbruchsstimmung"

Ihre Wahl war überraschend, auch weil Ihr Vorgänger Bernd Redmann in weiten Teilen der Lehrenden große Unterstützung erfuhr. Geht ein Riss durch die Hochschule, den Sie wieder kitten müssen.
Das, was bei mir ankommt, ist eine große Neugier. Ich spüre eine Aufbruchsstimmung, so habe ich die Versammlung der Mitarbeitenden und der Lehrenden erlebt oder die Immatrikulationsfeier. Ich bin als Präsidentin für die ganze Hochschule gewählt, ich sortiere Menschen nicht nach vermeintlichen Gruppen. Ich spüre, dass Menschen sich hier mit ihren Ideen einbringen wollen, das füllt gerade meinen Terminkalender. Was Sie ansprechen, sind die entstandenen Verletzungen an dieser Hochschule in den vergangenen Jahren, die ich auch wahrnehme.

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Inwiefern?
Ich spüre das in der Erwartungshaltung. Menschen gehen auf mich zu und sagen, der respektvolle Umgang miteinander, den wünschen sie sich in Zukunft stärker. Für mich ist die Vergangenheit insofern wichtig, weil sich daraus unser Handeln im Jetzt ergibt. Eine erste Konsequenz, die ich daraus gezogen habe, ist, dass ich mir für alle Zeit nehme und ihre Bedürfnisse erfrage. Dass mir jemand gegenübertritt, der keine Veränderungen will, das nehme ich bisher an keiner Stelle wahr.

Sie sind die erste Frau an der Spitze der Hochschule. Welchen Führungsstil pflegen Sie?
Es ist mein Anspruch, gemeinsam mit der Hochschule, schnell fundierte Entscheidungen zu treffen und diese transparent zu kommunizieren. Wir stehen - allein wenn Sie auf die Energiekrise blicken - vor harten Entscheidungen. Diese müssen wir treffen und dazu gehe ich mit denjenigen, die es betrifft, ins Gespräch. Wenn man in so eine Verantwortungsposition geht, dann erzeugt man Reibung, das ist mir bewusst. Es wird Entscheidungen geben, denen nicht alle zustimmen, aber es ist mir wichtig, dass niemand menschlich dabei verliert.

Wenn man sich in den letzten Jahren mit den Reformkräften unter den ProfessorInnen unterhalten hat, dann war der Frust unüberhörbar, manche zogen sich aus der Hochschulleitung zurück. Wie können Sie da wieder Feuer entfachen?
Dieses Feuer braucht die Hochschule und das brauche ich auch ganz persönlich. Ob Zustimmung oder konstruktive Kritik, ich fordere diese Ansprache an mich ein. Die Frage, warum Frustration entsteht, ist eine atmosphärische Frage. Wir müssen lange Prozesse verkürzen, und es muss klar sein, wie Entscheidungen zustande kommen. Also: Werden Betroffene vorher gehört? Gibt es dafür einen sortierten Prozess? Wie transparent ist die Gremienarbeit? Kann ich Führung sichtbar machen? Daran werde ich mich messen lassen.

"Die Münchner Musikhochschule gehört zur weltweiten Spitzenklasse"

Reden wir über Ihre Programmatik. Wie wollen Sie das internationale Renommee der Hochschule wieder in die Schlagzeilen bekommen?
Die Münchner Musikhochschule gehört zur weltweiten Spitzenklasse. Das weiter auszubauen, ist mein Anspruch. Und das funktioniert nur, wenn wir die Studierenden und ihre Ausbildung für eine sich schnell verändernde Branche in den Mittelpunkt rücken. Dazu brauchen wir das klare Nachdenken darüber, welche Rolle Kunst und Kultur in Gesellschaft haben. Wie schaffen wir da Nähe im positiven Sinne? Also zum Beispiel, welche Rolle spielt Musik in Schulen? Wir sind ein Ort des Lernens und Lehrens, aber wir müssen auch raus. Es geht darum, Kunst in die Stadt zu tragen, zu den Menschen. Meine Programmatik ist die eines offenen Hauses.

Die Musikhochschule wurde in den letzten Jahren von den Skandalen um Ex-Präsident Siegfried Mauser und dem langjährigen Kompositionsprofessor Hans-Jürgen von Bose erschüttert. Werden Sie sich diese beiden Fälle noch einmal genauer ansehen, um besser verstehen zu können, welche Strukturen man wie verändern muss?
Für mich ist wichtig, transparent zu machen: Wie ist die Situation heute? Da werden die beiden Fälle, die Sie ansprechen, hineinwirken. Ich möchte wissen, wo bewegen wir uns, wie wird das Thema Nähe und Distanz bei den Studierenden heute wahrgenommen, aber auch unter den Lehrenden und Mitarbeitenden. Dafür brauche ich eine fundierte Datenbasis, daraus werden sich nächste Schritte ergeben.

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2016 hat die Hochschule eine Umfrage zu sexueller Belästigung unter den Studierenden durchgeführt, sie trotz irritierender Ergebnisse wegen methodischer Mängel nicht veröffentlicht hat. Planen Sie eine neue Umfrage?
Eine professionelle, wissenschaftliche Erhebung des Status Quo muss unser Startpunkt sein. Das war auch eine Empfehlung der Holzheid-Kommission, dies regelmäßig zu tun. Ich möchte das in den nächsten Wochen, mit Unterstützung des Ministeriums, angehen.

Kurz vor Ihrer Wahl im Juli hat die Hochschule den ehemaligen Bose-Schülern endlich ein Gesprächsangebot unterbreitet, von ihren teils sehr verstörenden Erlebnissen zu berichten. Die Vorfälle liegen größtenteils 20, 30 Jahre zurück. Wie ernsthaft ist Ihr Interesse, mit diesen Schülern ins Gespräch zu kommen?
Das ist mir sehr wichtig. Mein Angebot ist klar: Allen, die ein Interesse an einem Gespräch mit der Hochschulleitung haben, stehe ich jederzeit zur Verfügung. Ich finde, das ist das Mindeste. Und das passiert auch, ein erstes Gespräch ist bereits vereinbart. Für mich ist wichtig, dass wir aus der Vergangenheit lernen und dass ich die volle Rückendeckung des Ministeriums habe, wenn wir unseren Code of Conduct umsetzen. Dieser Code bedeutet, dass wir gemeinsam genau im Blick behalten, wie wir zusammenarbeiten wollen. Und diesen Rückhalt vom Ministerium habe ich.

"Das München als Symbol genutzt wird, das ist mir total bewusst"

Auch wenn in den letzten Jahren einiges passiert ist - siehe AG Respekt oder externe Ombudsstellen - das Grunddilemma bleibt: Welche Studentin, die sich ganz bewusst für ein Studium bei einem renommierten Professor ausgesprochen hat, wird bei ungebührlichem Verhalten schon gegen ihn aktiv? Ist die Schwelle nicht viel zu hoch?
Man muss möglichst viele ansprechbare Stellen auf unterschiedlichen Ebenen schaffen, das ist im letzten Studienjahr mit unserem Netzwerk der Vertrauenspersonen passiert. Die Vertrauenspersonen sind Beteiligte aus allen Statusgruppen, also Lehrbeauftragte, Mittelbau, Professuren, Verwaltung, auch Studierende. Das sind insgesamt rund 20 Personen, die sich dazu freiwillig bereiterklärt haben. Das aber ist nur der erste Schritt. Jetzt ist es wichtig, den Umgang miteinander, das Thema Nähe und Distanz zu thematisieren. Ich persönlich mache das gerade bei jeder Gelegenheit. Auf der Immatrikulationsfeier habe ich gesagt, wenn euch was passiert, wenn ihr euch unwohl fühlt, dann haben wir dieses Netzwerk. Es ist wichtig, dass wir als Hochschulfamilie das Signal nach außen senden: Wir wollen das!

Spüren Sie, dass die anderen Kunsthochschulen im Land nun besonders auf München schauen?
Dass auf uns geschaut wird und München als Symbol genutzt wird, das ist mir total bewusst. Denken Sie nur an Jossi Wielers Inszenierung der "Meistersinger von Nürnberg" an der Deutschen Oper in Berlin, die auf den Machtmissbrauch an Musikhochschulen anspielte. Das erhöht unsere Verantwortung. Mein Anspruch ist, dass wir in diesen Fragen eine Art Vorbildfunktion, also Leadership übernehmen. Diese Erwartung, dass wir unser Kulturleben modernisieren, bezieht sich aber nicht nur auf das Thema Nähe und Distanz, sondern auf alle Inhalte und Formate.

Reden wir noch über die große Bau- und Sanierungsmaßnahme "Campus Arcisstraße". Ihr Vorgänger Bernd Redmann findet es "beschämend", dass der Freistaat die Hochschule mit dem Planungsauftrag so lange hingehalten habe. Haben Sie andere Hebel zur Verfügung, den Campus endlich Wirklichkeit werden zu lassen?
Wir brauchen eine Entscheidung des Ministeriums, wir brauchen eine klare Perspektive und die haben wir gerade nicht. Dazu bin ich seit dem Tag meiner Ernennung mit dem Ministerium im Gespräch. Unser Antrag mit unserem Gesamtkonzept inkl. Ausweichquartier liegt seit drei Jahren vor. Das macht die Lage vor dem Hintergrund der maroden Bausubstanz und der veralteten Gebäudetechnik in Zeiten der Energiekrise nicht besser. In der Champions League spielen geht nur, wenn wir professionelle Rahmenbedingen haben. Nach den Gesprächen, die ich mit dem Ministerium hatte, bin ich optimistisch, dass deutlich geworden ist, unter welchem Druck wir stehen. Wir können keine Zeit mehr verlieren.

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