„Mutig, dass Sie eine Kippa tragen!“

München - Der Davidstern glitzert in der Sonne. Kein Wunder, er ist aus Strasssteinen gefertigt. Terry Swartzberg hat an diesem Tag eine tintenblaue Kippa ausgesucht, die seidig glänzt. Die dezente Art, das ist nicht seine. Und darum geht es ja auch nicht in seinem Sozialexperiment Marke Eigenbau: Seit mehr als zwei Jahren läuft der US-Amerikaner mit der jüdischen Kopfbedeckung durch deutsche Städte, um zu beweisen, dass Juden hier keine Angst haben müssen, ihre Religiosität offen zu zeigen. Und während der ganzen Zeit, sagt er, „ist nur Gutes passiert. Ich hatte nur wunderbare, herzerwärmende Erlebnisse“.
Angefangen hat es als Experiment – nun ist es seine Realität
Am selben Tag, an dem der Präsident des Zentralrats der Juden vor dem Tragen der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung in „Problemvierteln“ warnt, ist Swartzberg in der Münchner Innenstadt unterwegs. Er flaniert im Bahnhofsviertel an Falafelbuden, Nagelstudios und Handyshops vorbei, eine kleine Kamera vor dem Bauch, um Reaktionen einzufangen.
Der Davidstern funkelt, Swartzberg strahlt. Ein paar Mal wird er angesprochen – jedes Mal ist der Anfangskontakt derselbe: „Shalom“, sagt ein älterer Mann mit grauem Schnauzbart. Er sei selbst Jude und Freude sich, jemanden mit einer Kippa zu sehen. „Shalom“, sagt eine kleine, dunkelhaarige Frau. Sie ist ebenfalls Jüdin. „Ich musste Sie ansprechen! Ich finde das mutig, dass Sie eine Kippa tragen. Man sollte keine Angst haben müssen, sich zu zeigen!“
Swartzberg ergreift ihre beiden Hände, schüttelt sie herzlich und bedankt sich. Solche Worte hört er gerne. „Natürlich hat sie recht!“, ruft er. „Viele trauen sich nicht, ihre Kippot draußen aufzusetzen oder ihre jüdischen Magazine öffentlich zu lesen.“ Das will er ändern.
Swartzberg ist 61 Jahre alt, er lebt seit 40 Jahren in München und setzt sich unter anderem dafür ein, dass hier das Verbot der Stolpersteine aufgehoben wird. Und vor 27 Monaten hat er damit begonnen, ganz bewusst eine Kippa zu tragen. „Um zu sehen, wie judenfreundlich oder judenfeindlich Deutschland ist.“ Inzwischen ist das Experiment kein Experiment mehr, für Swartzberg ist die Kippa zum Alltag geworden. „Das ist meine neue Realität“, sagt er. „Den Meisten ist es egal, dass ich die Kippa trage.“
Es hat bereits ähnliche Experimente wie das von Swartzberg gegeben, das aktuellste spiegelt eine andere Realität wider als seine: Der israelische Reporter Zvika Klein lief kürzlich durch Paris mit einer Kippa auf dem Kopf und ließ sich filmen. Er wurde beleidigt, bedroht und sogar bespuckt. Swartzberg bezweifelt allerdings die Authentizität des Videos, „die Reaktionen sind viel zu extrem“, sagt er.
Das „Vice“-Magazin stellte den Versuch in Berlin nach mit dem israelisch-deutschen Schauspieler Amit Jacobi. Es geschah: nichts. „Und wenn mir zum Beispiel etwas passieren würde“, sagt Swartzberg, „wäre das für mich auch kein Urteil über ganz Deutschland.“
Laut Innenministerium ist die Zahl der antisemitischen Straftaten 2014 im Vergleich zu 2013 um fast zehn Prozent gestiegen. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 864 antisemistische Straftaten registriert (95 in Bayern) – im Jahr davor 788. Dabei handelt es sich oft nicht um Gewalttaten, sondern Straftaten wie Hakenkreuz-Schmierereien oder Schändungen von Friedhöfen.
„Es ist befreiend, ohne Angst zu leben“
Die Zahl der Gewaltdelikte ist zurückgegangen: von 32 auf 25. „Die Dunkelziffer ist aber höher. Es gibt eine zunehmende Unsicherheit, Angriffe anzuzeigen“, sagt Robert Lüdecke von der Amadeu-Antonio-Stiftung. „Juden fürchten nicht alle um ihr Leben, aber es geht um eine veränderte Stimmung.“ Das Jüdische Gemeinde in Berlin beispielsweise verschickt inzwischen ihr Mitgliedermagazin in einem neutralen Umschlag – aus Angst vor Anfeindungen gegen die Leser.
Terry- Swartzberg bleibt dennoch bei seiner Ansicht, dass Deutschland ein progressives, freundliches Land ist – auch für Menschen, die eine Kippa tragen. Ein Buch über seine Erfahrungen und Gedanken zu dem Thema schreibt er gerade, wahrscheinlich erscheint es noch in diesem Jahr. „Ich hoffe, dass viele andere das dann auch machen und keine Angst haben“, sagt er. „Es ist befreiend, ohne Angst zu leben.“