Münchner Tafel: Immer mehr Berufstätige

München - Die armen Menschen in München haben Glück gehabt: Es sind unzählbar viele fehlerhafte Herzen hergestellt worden. Außerdem Kringel und Perlen, in Weiß, Braun und Rosa – und ein paar hundert goldene. Gleich zwei Paletten mit Ware zweiter Wahl sind es, gespendet von einem Hersteller, der die Knusperdinger mit Schokoüberzug für Joghurt produziert.
Jetzt stehen sie in zwei Meter hoch gestapelten Pappkartons auf dem Hof der Großmarkthalle in der Mittagsherbstsonne und müssen sinnvoll neu verpackt werden – und zwar, bis die Ausgabe der Münchner Tafel am frühen Nachmittag beginnt.
Wie erklärt man jemandem, was man mit Semmelbröseln macht?
Die Lieferwagen mit den eingesammelten Lebensmittelspenden von Supermärkten, Produzenten und kleineren Läden sind auch schon da. Die freiwilligen Helfer wissen, wie’s läuft: Einer holt das Cuttermesser, eine den Packbandabroller, Schäufelchen und Tüten, ein paar bauen die Tische auf – die Akkordarbeit beginnt. Dutzende Gemüsekisten drapieren, Hunderte Babybreigläschen aufstellen, zig Packungen mit Inkontinenzeinlagen stapeln, Millionen Schokoknusperkugeln in Tüten schaufeln.

Die etwas mehr als zehn ehrenamtlichen Helfer wissen alle, wie's läuft: Im Akkord schneiden sie Kisten auf, füllen um, verstauen in Kisten. Foto:ape
Die meisten Menschen, die später zum letzten Tisch der Verteilrunde kommen, schauen mit großen Augen die Tüten voller Herzen und Perlen an. Zeigen ihren Tafel-Ausweis, sagen "einmal für zwei, bitte" – und lachen staunend, als sie drei, vier, fünf Tüten bekommen. Wir können großzügig ausgeben.
Schwieriger ist es bei knapperen Gütern: Milch, Butter, Eier. Ein paar Mal wird es laut am Kühllaster. Manch einer ist verzweifelt, manch einer unverschämt – aber allen, die drängeln oder sich beschweren, wird schnell deutlich gemacht: so nicht. "Wir sind ja kein Supermarkt", sagt Petra, die immer freitags hier hilft.
Wer sich nicht benimmt, wer gegen die Regeln verstößt, wird erst verwarnt und bei weiteren Verstößen dann verwiesen. "Nicht mehr eingeladen" nennen sie das bei der Tafel, weil das weniger aggressiv klingt.
An unserem Tisch ist alles entspannt. "Was wir haben, mögen die Leute, wir haben genug davon und sie verstehen es", sagt Petra. Schwierig wird es, wenn man etwas Exotisches an Mann und Frau bringen muss, wie Kochbananen oder kiloweise Semmelbrösel. "Erklär das mal jemandem, dass man damit Knödel machen kann oder ein Schnitzel panieren." Extraschwierig, wenn die Deutschkenntnisse nicht so gut sind oder der Mensch kein Schweinefleisch isst.

Axel Schweiger, Leiter der Großmarkthallen-Ausgabestelle am Freitag und Samstag. Foto:Petra Schramek
Die Zahl der Gäste mit sogenanntem Migrationshintergrund ist zuletzt gestiegen, natürlich. Auch, weil alle aus der ganzen Stadt die neuen Gäste zur Großmarkthalle schicken, wenn die anderen Tafeln keine freien Plätze mehr haben.
Besonders deutlich merkt man das am Samstag. Da kommen nämlich vor allem diejenigen, die unter der Woche nicht können, weil sie arbeiten. Und sich und ihre Familie trotzdem nicht selbst versorgen können.
"Viele schaffen den Weg zum Sozialbürgerhaus emotional nicht"
"Das sind oft Menschen mit Migrationshintergrund", sagt Axel Schweiger, der Leiter der Ausgabestelle, "weil die die schlecht bezahlten Jobs machen, die für das Geld kaum jemand anders macht."
Es kommen aber auch immer mehr Ältere. "Explosionsartig" sei deren Zahl gestiegen, sagt Schweiger. "Die Renten reichen nicht mehr aus für die Mieten und die Nebenkosten, viele schaffen den Weg zum Sozialbürgerhaus emotional nicht, um dort die Grundsicherung zu beantragen." Es gibt einen Fahrdienst der Johanniter, der die Senioren und Seniorinnen mit ihrem schweren Tafel-Gepäck nach Hause bringt, wenn sie das allein nicht schaffen.

Die Menschen kommen mit Behältnissen, in die möglichst viel hineinpasst. Ein Auto kann sich fast niemand leisten und jeder Berechtigte darf nur einmal die Woche seine Lebensmittel abholen. Foto: Petra Schramek
Große Taschen, Koffer, Kinderwagen – Behältnisse, in die möglichst viel hineinpasst, schieben und tragen die Gäste über den Asphalt. Ein Auto kann sich fast niemand leisten und jeder Berechtigte darf nur einmal die Woche seine Lebensmittel abholen. Bei Großfamilien, davon gibt es viele hier, muss es da viel Lauch und Milch und Babybrei werden.
Für die Tafel-Kinder gibt die Stadt Ferienpässe aus. 170 Kinder versorgt die Freitags-Ausgabestelle – 21 Ferienpässe gab es von der Stadt. Wer Nummer 22 oder höher ist, der muss zum Sozialbürgerhaus. Den Pass gibt es nicht einfach so: Ausweisnummer zeigen, Anzahl der Kinder nennen für die Liste, die neben den Knusperkugeln liegt, "und nächste Woche dann Passfotos mitbringen..." Das etwa sechsjährige Mädchen vorm Tisch beendet den Satz: "...auf denen hinten der Name und das Alter steht, ich weiß. Bringen wir mit." Wach schaut sie, wie sie da steht zwischen ihren Eltern und der Sozialbürokratie.
Zwei Drittel der Gäste sind alleinerziehend, alt oder krank
Zwei Drittel der 20.000 Münchner Tafel-Gäste sind alleinerziehend, alt oder krank. Diese Menschen fasst Schweiger in einer Gruppe zusammen, weil sie alle nicht nur vorübergehend in dieser Situation sind. Gewachsen ist auch die Zahl derer, die recht jung sind, 40, 45 Jahre, die eine akademische Bildung haben – die aber zum Beispiel wegen psychischer Probleme aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind und nur schwer zurückkommen.

Petra, ehemals Diplomgrafikerin, ist ehrenamtliche Helferin der Münchner Tafel, jeden Freitag baut sie die Ausgabe mit auf und verteilt die Waren. Foto:ape
Petra, die ehrenamtliche Helferin, hat Ähnliches erlebt: Sie ist Diplomgrafikerin, arbeitete bei einem Münchner Verlag. Der machte ihre Abteilung dicht – und sie wurde arbeitslos. Mit 59. "Ich komme jede Woche her", sagt sie. "Zu sehen, wie das den Menschen hilft, gibt mir mehr als jeder Job."
Für die Obst-und-Gemüse-Verteilergruppe ist es heute schlecht gelaufen. Es sind noch mehrere Stiegen Himbeeren da, aus den Spalten diverser Sperrholzkisten lassen Dutzende Kräutertöpfchen ihre Blätter hängen, fahle Fenchelhälse schauen heraus. "Das darf nicht passieren, dass so viel übrig bleibt", sagt Brigitte Neugebauer, die Stellvertreterin von Axel Schweiger. "Da wurde schlecht ausgeteilt."
Ein Freiwilliger mit einer Tüte voller Reste der Reste will sich verabschieden. Neugebauer schaut auf die Himbeeren in der großen Mülltonne, dann mit hochgezogenen Augenbrauen ihn an. "Du weißt doch, wie’s ist", sagt er. "Die waren fast alle schon kurz vorm Schimmeln, als sie ankamen."

Die Tafel-Fahrer sortieren die Lebensmittel schon vor, aber es rutschen auch immer mal wieder verdorbene Sachen in die Spenden - vor allem, wenn die Entsorgungskosten gerade hoch sind. Foto: ape
Neugebauer seufzt. Ja, sie weiß, wie es ist. Je höher die Preise für Entsorgung steigen, desto mehr Lebensmittelspenden, die eigentlich hätten aussortiert werden müssen.
Die Herzen übrigens, die zentnerweise im Hof der Großmarkthalle standen und auf Verteilung warteten, wurden als "Mangelware" eingestuft, weil sie nicht wie gewünscht alle fein säuberlich einzeln produziert waren. Sondern sich immer mehrere eng aneinanderdrückten.
Warum versorgen Sie sich trotz Arbeit bei der Münchner Tafel?