Münchner Kindheit in den 60ern: Kleine Kinder, große Freiheit
München - Die Teppichstangen im Hof reichten als Turngerät, auf der Straße fuhren die Kinder immer Rollschuh und zwischen den Garagen spielten die Nachbarskinder Völkerball: Angelika Rodatus hat sehr viele, sehr bildliche Erinnerungen an ihre Kindheit in der Neuhauser Heideckstraße.
Jetzt sitzt Rodatus, Jahrgang 1960, vor dem Palmenhaus im Nymphenburger Schlosspark. Sie hat schon vor Jahren ein Buch über die Kindheit in der Stadt in den 60ern geschrieben. Und ihre Kindheit und Jugend, die hat sie auch viel hier verbracht, im Nymphenburger Schlosspark.
Der erste Waschsalon in der Nachbarschaft ist eine Sensation
Und in der Heideckstraße, nahe dem Leonrodplatz. "Der Hausmeister hat uns immer geschimpft, wenn wir über die Garagendächer geklettert sind", erzählt sie. "Die Jungs haben die Mädchen geärgert und andersrum. Und man hat sich auch geklopft", sagt sie und lacht.

Der größte Unterschied zu heute? "Draußen, wir waren einfach immer draußen", sagt Angelika Rodatus. "Es waren immer ganz viele Kinder draußen." In ihrer Erinnerung schauten die Mütter nur gelegentlich mal aus dem Fenster, sonst war man sich selbst überlassen, bis zum Abendessen gerufen wurde. Herrlich!
"Als ich ganz klein war", sagt sie, "hat meine Mutter noch in der Badewanne gewaschen." 1964 habe in der Heideckstraße dann der erste Waschsalon aufgemacht. "Das war eine Sensation!"

"Tante Milla" gab Klavierunterricht
Für damalige Verhältnisse habe man groß gewohnt, die dreiköpfige Familie hatte eine 80-Quadratmeter-Wohnung. "Viele Kinder von Offizieren wohnten da, es war eine gutbürgerliche Gegend." Und: Man kannte sich. Angelika Rodatus kann noch vom Stefan erzählen, der einen Lebensmittelladen hatte mit drei Angestellten.
Oder von Tante Milla. So nannten die Kinder eine ältere Dame, die mit ihren "skurrilen Mänteln" auch immer am Sandkasten saß. Eines Tages erzählte die kleine Angelika ihr, dass sie so gerne Klavierspielen lernen würde. "Da hat sie gesagt, sie sei staatlich geprüfte Klavierlehrerin." Tante Milla kommt ab sofort in die Familie, jeden Freitagnachmittag, für fünf Mark die Stunde gibt sie Klavierunterricht, anschließend gibt es Kaffee. So geht es viele Jahre lang, bis Angelika 16 ist.

Die Kinder dürfen sehr viel - aber nicht alles. Die Landshuter Allee zu überqueren, ist alleine verboten. "Die war schon damals stark befahren." Und auch rüber zum Schuttberg auf dem Oberwiesenfeld geht man nur mit den Eltern gemeinsam. Auch an den Taxisgarten erinnert sich Angelika Rodatus. "Das war ein richtig gemütlicher, normaler kleiner Biergarten."
Auch ein Gefühl aus der Kindheit, an das sie sich erinnert: die Angst vor dem Krieg. Der Vater habe seinen Reservistensack im Schrank gehabt. "Ich hatte Angst, dass er in den Krieg muss."
Heute lebt Rodatus, die Herzens-Münchnerin, lieber in der Vorstadt
Angelika spielt Winnetou im Garten der Tante, "wir haben Karl Mey gefressen", baut dort mit Decken Zelte auf, zu Hause feiern sie große Faschingspartys. Auf dem Christkindlmarkt kauft man Figuren für die Krippe daheim. Die Erinnerung an die Zeit hat sie nie losgelassen.

So hat sie nicht lange gezögert, als ihre Freundin und Journalisten-Kollegin Barbara Kettl-Römer sie vor Jahren gefragt hat, ob sie nicht an einem Buch-Projekt zum Thema mitarbeiten würde. Herausgekommen ist das lesenswerte Buch "Aufgewachsen in München in den 60ern und 70ern" (siehe unten).
Die Heideckstraße und die Umgebung nahe Leonrodplatz gefallen ihr heute gar nicht mehr. "Es ist überhaupt nicht mehr schön", sagt sie, "das Flair ist verloren gegangen." Heute wohnt die Herzens-Münchnerin lieber in der Vorstadt.
Und kommt nur noch gelegentlich in die Gegend. Zum Beispiel hierher, in ihren Schlosspark. Phasenweise, erzählt sie, ging damals sogar ihr Schulweg am Schlosskanal entlang zum Maria-Ward-Gymnasium. "Das war herrlich", sagt Rodatus. Der Schlosspark ist bis heute ihr liebster Ort in München. Auf einem Foto aus ihrer Kindheit schaut die kleine Angelika keck in die Kamera, hinter ihr ein Schwan.
42 Kinder in einer Schulklasse waren Alltag
Rodatus weiß sogar noch genau, wo das Bild entstanden ist. Das Geländer aber gibt es nicht mehr, wie sich beim Besuch mit der AZ zeigt. Ansonsten aber: vieles noch wie einst im Schlosspark, "hier kann man einfach zu jeder Jahreszeit aufladen", schwärmt Rodatus. Im Palmengarten gab es damals schon den Kiosk, dort war sie auch als Kind.
Wie es in der Schule war? "42 Kinder in der Klasse!", Angelika Rodatus weiß es noch genau. "Die Lehrer hatten die totale Macht." Das System habe funktioniert. Die Anforderungen seien damals viel höher gewesen. Wie viele Rechtschreibfehler Kinder heute machen! Sie findet das furchtbar. "Das Aufmerksamkeitslevel ist einfach nicht mehr wie früher." Damals, in der Zeit, die Angelika Rodatus nie losgelassen hat.
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