Münchens Zukunftsmacher: Der Traum vom klugen Handschuh
München - Tolle Idee, haben sich wohl die vier Münchner Thomas Kirchner, Paul Günther, Jonas Girardet und Alex Grots gedacht, als sie im Jahr 2014 von dem Wettbewerb "Make It Wearable" des Halbleiterherstellers Intel gehört haben. Bei diesem sollten neue, innovative Ideen für am Körper tragbare Computer-Technologien vorgelegt werden. Der Treffpunkt: San Francisco, Kalifornien, das Preisgeld: eine halbe Million US-Dollar.
"Ich hab gesagt, da müssen wir etwas einreichen", erinnert sich Günther (39) im Gespräch mit der AZ. Gesagt, getan. Die Erfindung der damaligen Studenten: Ein tragbarer Barcode-Scanner, angebracht an einem Handschuh, den sie Proglove tauften. Die Freunde ergatterten den dritten Platz und ein Preisgeld von 100.000 US-Dollar. Später stockte Intel die Summe sogar auf 250.000 US-Dollar auf. Heute werden ihre smarten Handschuhe zu Hunderttausenden eingesetzt.

Anwendung finden sie in der Industrie, im Handel sowie der Logistik, etwa um den Ein- und Ausgang von Waren zu dokumentieren. Die "Wearables" sollen den Mitarbeitern in Lagerhallen, die oft körperlich anstrengende Arbeit verrichten, eine Erleichterung bringen. Denn zuvor mussten die Pakete von den Arbeitern oft zu den teils am Computer angeschlossenen Lesegeräten gehievt werden.
Der Prototyp bestand aus Ipod sowie Baumarkthandschuh
Proglove hat den Ablauf vereinfacht und den Scanner so schmal gebaut, dass er an der Hand getragen werden kann. Er wiegt etwa 40 Gramm und ist so groß wie eine Streichholzschachtel. Das System: An dem Handschuh befindet sich der Auslöser für den Scanner. Eine Kamera liest den Strichcode, der ermittelt werden soll, und dessen Zahl wird in das System der Kunden übertragen. Durch den intelligenten Handschuh kann mit beiden Händen gewerkelt werden, sagt der Gründer. "Das spart Zeit und ist zudem ergonomischer als ursprüngliche Lesegeräte, die in der Hand getragen werden müssen."
Zu ihren Kunden gehören inzwischen Autohersteller wie Mercedes, BMW oder Volkswagen, Einzelhändler, etwa Rewe und Rossmann sowie Konzerne wie Lufthansa oder DHL.
Wenn Günther an den Wettbewerb in Kalifornien zurückdenkt, muss er augenblicklich schmunzeln. Um die Vision des Scannerhandschuhs zu veranschaulichen, hatten die Studenten damals einen Baumarkthandschuh eingereicht, der mit einem Ipod ausgestattet war, erzählt er der AZ beim Rundgang durch seine Firma in Sendling.
Den Einfall zum smarten Handschuh hatte Günther, als er während seines BWL-Studiums im BMW-Werk als Tourguide jobbte. Dort wurden Schutzkleidungsstücke in sämtlichen Bereichen getragen, erzählt er: Warnwesten, Sicherheitsschuhe oder -brillen, Helme - und eben Handschuhe. "So kam mir die Idee für den ersten Prototypen."

Die vier Gründer waren alle schon immer Bastler, sagt Günther. "Ich war in der Schulzeit in Mathe zu schlecht, deshalb konnte ich nicht Maschinenbau studieren", sagt er lachend. "Ich hatte weder Erfahrung mit Elektronik, noch als Programmierer." Doch habe er sich oft mit Experimentierkästen beschäftigt. Grots und Girardet kannten sich wiederum mit Produktdesign aus, Thomas Kirchner hat Maschinenbau studiert. "Jeder hat etwas beigetragen."
Am Anfang wurde Tag und Nacht daran gearbeitet, den Traum vom klugen Handschuh zu erfüllen. "Ich habe mir einen Van geholt und sogar vor dem Büro geschlafen", erinnert sich Günther. 2015 gründeten sie ihr Start-up. "Mit dem Preisgeld konnten wir unsere ersten Mitarbeiter bezahlen."
Heute zählen etwa 300 Angestellte zu Proglove. Man duzt sich. An der Wand im Münchner "Office" hängen Porträts all jener Mitarbeiter, die über fünf Jahre Teil der Firma sind - in Form von Gemälden. An der gegenüberliegenden Wand wurden berühmte Kunst-Darstellungen, etwa die Mona Lisa von Leonardo da Vinci, neu interpretiert: den Proglove-Handschuh tragend freilich.
In einem der Räume wird an neuen Exemplaren getüftelt, dort stehen 3D-Drucker und Werkzeuge bereit. Direkt neben dem Großraumbüro des Marketing- und Vertriebsteams werden in einem Produktionsraum die Handschuhe am Fließband hergestellt. Angestellte setzen dort die vorgefertigten Teile zusammen, dann werden sie verklebt.
"Wir wollen den Menschen nicht wegautomatisieren"
Die intelligenten Kleidungsstücke werden täglich optimiert: Die Scanner sollen kleiner werden, die Kunststoffhandschuhe möglichst ergonomisch und robust. Derzeit werde auch an der Nachhaltigkeit gearbeitet.
Durch in den Scanner eingebaute Sensoren können zudem weitere Informationen ausgewertet werden, um die Arbeitsabläufe zu verbessern. "Das Layout der Lagerhallen könnte dadurch so verändert werden, dass die Arbeiter einen noch geringeren Aufwand haben", so Marketing-Chefin Dunja Riehemann (49). Auch einen neuen Scanner gibt's nun, der eine Reichweite von sechs Metern hat.

Im Fokus stehe der Mensch und die Idee, Warenhäuser effizienter zu gestalten. "Wo andere versuchen, den Menschen wegzuautomatisieren, möchten wir ihm bessere Werkzeuge an die Hand geben und unterstützen", sagt Geschäftsführer Andreas König (57). In Zeiten des Fachkräftemangels sei dies besonders wichtig.
Proglove hat inzwischen nach Serbien und in die USA expandiert. Als Nächstes soll der asiatische Markt erobert werden. Finanzielle Unterstützung hat die Firma dafür heuer bekommen: Im Mai hat der schwedische Finanzinvestor Nordic Capital die Mehrheit von Proglove übernommen. Die Gründer sowie das Management bleiben Minderheitseigner. Der Unternehmenswert lag bei der Übernahme bei etwa 500 Millionen Euro, wie ein Insider der AZ bestätigt.
Künftig möchte Proglove zu den Einhörnern gehören, sagt König. So werden diejenigen Start-ups genannt, die mit über einer Milliarde Dollar bewertet werden. Und bis dieser Traum Wirklichkeit wird, tüfteln die Hersteller weiter.
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