München: Corona-Krise verschärft häusliche Gewalt
München - "Das Problem ist", sagt Andrea Bergmayr, "dass man ja nicht reinschauen kann in die Familien." Von außen kann man nicht sehen, was in den Wohnungen passiert. Ob die Konflikte zugenommen haben zwischen Eltern und Kindern, ob sie eskaliert sind, ob es zu Gewalt gekommen ist. Es muss immer erst jemand nach außen treten. "Die Schwelle, sich selbst Hilfe zu holen, ist bei Kindern viel zu hoch", sagt Bergmayr. "Sie brauchen immer jemanden, der sie begleitet. Und genau diese Begleitpersonen sind weggebrochen in den letzten Wochen: die Lehrerinnen und Erzieher, die Hausaufgabenbetreuer und oft auch die Großeltern."
Bergmayr arbeitet bei IMMA, einer Beratungsstelle für Mädchen und junge Frauen in München. Und sie macht sich Sorgen. Sorgen, dass die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zugenommen hat in den vergangenen Wochen. Ohne, dass jemand etwas davon mitbekommen hat.
Versteckte Realität: Corona-Krise verschärft Gewalt gegen Kinder
An den offiziellen Zahlen lässt sich ein Anstieg der Gewalt (noch?) nicht ablesen. Nach einer Umfrage von "SZ" und WDR bei mehreren Hundert Behörden sind die Meldungen für Kindeswohlgefährdungen in der Corona-Krise in Deutschland um knapp 15 Prozent gesunken. Und auch Christian Pröls vom Kinderschutz-Zentrum München berichtet von einem plötzlichen Einbruch der Anrufe ab dem 16. März. "Für gewöhnlich erhalten wir einen großen Teil unserer Meldungen von Schulen, Kindertagesstätten oder Einrichtungen der Jugendhilfe", sagt auch er. "Als diese Einrichtungen geschlossen haben, ist die Zahl der Anrufe bei uns direkt nach unten gegangen."
Doch eine jetzt veröffentlichte Studie der Technischen Universität (TUM) ergab, dass viele Frauen und Kinder in der Corona-Krise häusliche Gewalt erlebt haben. Und auch Christian Pröls sieht gute Gründe für die Vermutung, dass die Gewalt eher zu- als abgenommen hat: "Es gibt verschiedene Faktoren, die erwiesenermaßen die Gewalt gegen Kinder fördern", sagt er. "Und eigentlich alle davon sind durch die Corona-Krise verschärft worden." Beengte Wohnverhältnisse, psychischer Stress, wenig Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen: Die Corona-Krise hat all dies verstärkt.
Dass die Gefahr, in der Corona-Krise häufiger Opfer von Gewalt zu werden, nicht nur Kinder trifft, dafür sprechen beispielsweise Zahlen aus Großbritannien. Statistisch gesehen werden dort innerhalb von drei Wochen fünf Frauen von ihren Partnern oder Expartnern ermordet. Zwischen dem 23. März und dem 12. April, den ersten drei Wochen der Ausgangssperre, waren es 14 Frauen – und zwei Kinder.
Sexuelle Gewalt: "Frauen melden sich nach drei bis fünf Jahren"
Auch in Deutschland kommen Femizide, also gezielte Morde an Frauen, ebenso wie sexualisierte und körperliche Gewalt gegen die Partnerin häufig vor. Am 22. Mai hat in der Implerstraße ein Mann seine Frau und Tochter mit einer Schusswaffe bedroht. Am 26. Mai ist in Pöcking am Starnberger See ein Mann mit einem Auto in eine Menschenmenge gerast, in der sich auch seine Partnerin befand – die Polizei vermutet eine "Beziehungstat", also einen gezielten Mordversuch an seiner Freundin. Und am 28. Mai hat ein Mann in Englschalking seine Partnerin erwürgt. Die Frau soll ihn zuvor mit einer Flasche angegriffen haben.

"Wir haben in der Corona-Krise eine relativ gleichbleibende Zahl an Meldungen von Frauen erhalten", sagt Lydia Dietrich von der Frauenhilfe München, welche ein Frauenhaus betreibt. "Wir vermuten allerdings, dass das auch mit den eingeschränkten Zugangswegen zu tun hat." Wegen der Pandemie mussten die offenen Beratungsstellen, die die Frauenhilfe anbietet, schließen. Telefonisch war die Frauenhilfe trotzdem durchgängig erreichbar. "Aber die persönliche Beratung ist natürlich viel niedrigschwelliger", sagt Dietrich. "Gerade während einer Ausgangssperre, wo man oft sehr eng zusammen in einer Wohnung sitzt, ist die Hemmschwelle bei einer Beratungsstelle anzurufen, natürlich erhöht."
Dazu kommt: Die meisten Frauen, die körperliche oder sexualisierte Gewalt in ihren Beziehungen erleben, brauchen häufig eine lange Zeit, bis sie sich jemandem anvertrauen. "Im Schnitt melden sich die Frauen nach drei bis fünf Jahren bei uns", sagt Dietrich.
Und ähnlich wie bei den Kindern spielt auch bei Frauen mit hoher Wahrscheinlichkeit die fehlende Anbindung an ein soziales Umfeld eine Rolle. "Häufig kommen Frauen zu uns, die über ihre Mitarbeit in Vereinen, über die Schule oder die Kita angesprochen und ermutigt worden sind", sagt Dietrich. Diese Anbindung fiel in den vergangenen Monaten weg.
ÖDP fordert drei Mal so viele Frauenhäuser wie bisher in München
"Wir kennen den Effekt, dass äußere Krisen das System von innen schließen", sagt Andreas Schmiedel. "Je stärker der Druck von außen wird, desto weniger gehen die Betroffenen nach außen." Schmiedel arbeitet im MIM, dem Männerinformationszentrum München, das männliche Betroffene von Gewalt ebenso wie männliche Täter berät. Auch das MIM hat in den vergangenen Wochen keine Zunahme an Anfragen verzeichnet. Aber auch Schmiedel glaubt, dass die Zahlen hierbei nicht die reale Situation widerspiegeln. "Ich kann mir vorstellen, dass viel von dem, was in den vergangenen Monaten passiert ist, erst jetzt so langsam bekannt wird, wenn die Schulen wieder öffnen", sagt er. "Oder die Gewalt bricht erst jetzt wirklich aus. Denn auch das kennen wir: Dass äußere Anspannung sich erst dann wirklich in Gewalt entlädt, wenn langsam wieder die Entspannung eintritt."
Klar ist: Auch ohne einen Anstieg der offiziellen Zahlen stehen viele Hilfsstellen in München an der Belastungsgrenze. Die Plätze im Münchner Frauenhaus der Frauenhilfe sind aktuell vollständig belegt. "Wir waren vor Corona voll und wir sind jetzt voll", sagt Dietrich.
Der Politik ist das Problem bekannt, die ÖDP hat gerade einen Antrag auf eine Erhöhung der Plätze in Frauenhäusern um 200 Prozent gestellt. Dietrich sagt: "Das Problem ist vor allem, dass Frauen oft sehr lange bei uns bleiben müssen, bis das Wohnungsamt ihnen eine alternative Unterkunft vermitteln konnte." Und auch, wenn die Anfragen gleich bleiben sollten: "Aktuell reichen unsere Plätze bei weitem nicht aus. Da muss sich etwas ändern. Und zwar dringend."
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