München 1972: Großer, teurer Stadtumbau für die olympischen Spiele
München - Der Beginn des Olympiajahres beginnt für die Stadt denkbar holprig: München ist zu einem Fass ohne Grund und Boden geworden, zu einem warnenden Beispiel für andere Entwicklungsstädte. Mit einem immer schneller, immer gewaltsamer werdenden Automatismus droht die in säkularem Wandel begriffene Olympiastadt, wie ihr Oberbürgermeister öffentlich bekennt, zu einem "steinernen Meer" zu werden.
Gleich zu Beginn des Jahres lauter Hiobsbotschaften
Obwohl Hans-Jochen Vogel zugleich seinen Stadtrat warnt, dass man mit jeder Milliarde für den Verkehrsausbau "unsere Stadt dem Tode näher bringt", werden neue gewaltige Investitionen beschlossen, werden Fehlplanungen größten Ausmaßes bestätigt, werden Kostensteigerungen bis zu Hunderten von Millionen bekannt, die nicht nur die Steuerzahler in München und Bayern treffen.
Zu Beginn des Olympiajahres 1972 überschlagen sich die Hiobsbotschaften in jener ach so "dynamischen" Stadt, die nach Feststellung ihrer Statistiker die teuerste Deutschlands geworden ist, eine wahre "Hauptstadt der Erd- und Kostenbewegung", ein modernes Metropolis: Die Kosten für die S-Bahn, die München bis 1972 unterirdisch durchqueren wird, sind von ursprünglich 420 auf 730 Millionen DM geklettert. Die Mehrkosten werden wahrscheinlich von Bund und Land getragen werden müssen.
- Die Kosten für die städtische U-Bahn stiegen von 684 auf jetzt 720 Millionen DM. Auch hier sind Bund und Land über eine "Tunnelgesellschaft" beteiligt und haftbar. Vogel äußerte sich "bestürzt".
- Weil die amerikanische Armee trotz jahrelanger Bitten die Straße durch ein Kasernenviertel nicht freigibt, muss die Stadt für 48 Millionen DM einen Graben in Richtung Süden bauen, um den Ausflugsverkehr einigermaßen bewältigen zu können.
- Obwohl 1500 Anwohner protestieren und der OB von einer "Zumutung" spricht, beschließt der Stadtrat den Bau einer 300 Meter langen provisorischen Stahlbrücke im Zuge der völlig überlasteten Stadtautobahn "Mittlerer Ring", die auch den Ferienverkehr aufnehmen muss.
- Eine Renovierung der Münchner Kammerspiele wird statt 3,8 Millionen über 4,7 Millionen DM kosten und zu weiteren Zwangspausen bis Ende nächsten Jahres zwingen.
- Ein Untersuchungsausschuss des Landtags bescheinigt den städtischen Dienststellen bei Planung und Ausführung der fünfstöckigen "Underground-City" am Stachus "Fehler in organisatorischer, planerischer, baurechtlicher, gemeinderechtlicher und haushaltsrechtlicher Hinsicht". Kostensteigerung: von 92 auf über 172 Millionen DM.
- Während der Stadtrat zum Beispiel das von der Baugesellschaft gewünschte Groß-Café auf dem Olympiaberg, inmitten einer künftigen Erholungslandschaft, unter Berufung auf die Volksgesundheit und nicht ohne Druck der veröffentlichten Volksmeinung ablehnt, bangt die Bevölkerung jetzt um das Erholungsgebiet bei Waldperlach, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft über 100 000 Menschen wohnen sollen. Ein Kiesgrubenbesitzer will hier ein Sportzentrum mit einem 352-Zimmer-Hotel errichten. Der Englische Garten, die größte "grüne Lunge" der Stadt, wird schon von einem 1000-Betten-Hotel und riesigen Verwaltungsneubauten angefressen.

Inzwischen hat die Bürgerschaft den monatelangen Kampf um eine der liebenswürdigsten Stätten Altmünchens endgültig verloren: In wenigen Tagen wird das Hofgartencafé "Annast" schließen, damit eine auswärtige Bank dort Hof halten kann. Das überforderte Stadtparlament glaubte noch, diese kalte Kommerzialisierung durch Erlass einer Veränderungssperre aufhalten zu können.
Aber der Bankboss pfeift auf diese Gesetzesklausel aus dem 19. Jahrhundert: "Das berührt uns nicht; an der Fassade wird ja nichts verändert." Hinter die überall plakatierte Losung "München wird moderner" schreiben Zyniker jetzt: "So modern wie Wolfsburg."
Resignation ist keine Option
Vogel will zwar unter keinen Umständen resignieren, aber seine Rezepte klingen jetzt oft recht abstrakt: Eine Einschränkung des immer stärker werdenden Zuzugs - worauf Münchens Misere zu einem guten Teil beruht - sei administrativ nicht möglich; die rund 30 000 Zuwanderer pro Jahr sollten möglichst auf "Subzentren", auf neue Kultur- und Wirtschaftszentren in der Region verteilt werden. Innerhalb der Kernstadt aber müssten dennoch "gewisse Mindestausstattungen" geschaffen werden, ohne die Stadt dem Moloch Verkehr zu opfern. Wenige Stunden nach dieser Erklärung erlebt der Verkehr in der gesamten Innenstadt wieder einmal einen totalen Zusammenbruch ...
Schon am 26. Juni 1970 war das größte Tiefbauwerk Europas mit der größten unterirdischen Ladenstadt von Oberbürgermeister Vogel eröffnet und von Kardinal Julius Döpfner eingeweiht worden. Der fünfgeschossige Tiefbau soll systematisch zur wichtigsten Verkehrsdrehscheibe Münchens und seiner Region ausgebaut werden. Am 26. April 1972 wird die 4,3 Kilometer lange Tunnelstrecke der S-Bahn zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof für den Probebetrieb eröffnet. Am 28. Mai folgt die Inbetriebnahme der S-Bahn. Zugleich tritt der Münchner Verkehrsverbund MVV in Kraft, nachdem die U-Bahn schon seit 19. Oktober 1971 zwischen Goetheplatz und Freimann verkehrt.
Am 28. Juni 1972 kann die Olympische Baugesellschaft - im Beisein von Bundeskanzler Willy Brandt und des seit wenigen Tagen amtierenden Vogel-Nachfolgers Georg Kronawitter - die Sportstätten an das Nationale Olympische Komitee übergeben. "Es ging um ein Bauwerk von europäischem Rang, das seine Bedeutung bis heute erhalten hat" sagt Alt-OB Hans-Jochen Vogel 2012 anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der von ihm initiierten Münchner Sommerspiele in einem AZ-Interview. Eine Gesellschaft müsse die Kraft aufbringen, auch dafür auch einmal eine Kostenexplosion hinzunehmen.

"München 1972: Wie Olympia eine Stadt veränderte" von Karl Stankiewitz ist soeben im Allitera-Verlag erschienen (25 Euro).