Mit dem Radl von München nach Sylt: "Treten, Ralph, weitertreten!"
München - Manche nehmen sich ein solches Projekt ein Leben lang vor - machen es aber nie. Der selbstständige Handwerker Ralph Kilian hat es getan: mit dem E-Lastenrad zum Ort seiner Kindheitsträume - nach Sylt, wo er als kleiner Bub zum ersten Mal das Meer gesehen hatte. Pfingstsonntag fuhr Kilian los, am Samstag darauf war er da. Doch ganz so einfach war's nicht.
Mit der AZ sprach Kilian darüber, warum es klappte und woran er fast gescheitert wäre.
AZ: Herr Kilian, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wie war der Start, alles nach Plan?
RALPH KILIAN: Ich bin pünktlich um 8.30 Uhr losgefahren. Aber es ging kompliziert los.
Gleich am Anfang?
Wir hatten ja Ende Mai so extrem wechselhaftes Wetter. Und da startete ich gleich mal in einen zweistündigen Regenschauer. Zum Glück hatte ich Handschuhe dabei. Ich wollte eigentlich gar keine mitnehmen. Aber bei 8 Grad hat sich das gelohnt. Ein goldwerter Tipp von einem guten Freund. Da war ich gottfroh.
Also Problem gelöst?
Na ja, es waren Lederhandschuhe. Sie saugten sich nach einer Zeit mit Wasser voll, waren durchweicht. Ich hatte irgendwann sehr kalte Hände. Das Wetter wechselte den ganzen Tag. Sonne, Regen, Wind und wieder Sonne.
Haben Sie Ihre erstes Ziel, Hilpoltstein, planmäßig erreicht?
Ich bin tatsächlich den ganzen Tag geradelt. Hatte kaum Zeit für Pausen. Ich wollte eigentlich zwischendurch absteigen, ein paar Fotos machen. Aber es reichte gerade mal für eine Kleinigkeit zum Essen oder, um den Akku zu tauschen. 150 Kilometer. Abends kam ich an, gegen 19 Uhr. Das war ein Kraftakt, gleich zu Beginn. Ich konnte mein Rad auf der Strecke an einem Bauernhof wiegen. Mit mir alles zusammen, samt Gepäck: etwa 200 Kilogramm.
Was hatten Sie alles dabei?
Die vier Akkus waren am schwersten. Dazu die Ladegeräte. Ansonsten leichte Stoffhosen, Pullover, Werkzeug, Ersatzschläuche, Dichtschaum für den Notfall, eine Mehrfachsteckdose, ein Stativ, eine Kamera plus Regenklamotten natürlich.
Apropos Gewicht. Sie sehen so aus, als ob Sie einige Kilogramm verloren hätten - nach mehr als 1.100 Kilometern Radeln.
Sehr schmeichelhaft, danke. Aber die Waage zu Hause in Giesing sagt was anderes. Vielleicht kaschiert auch der Bart ein wenig (lacht laut). Es könnte sein, dass mein Gesicht etwas schmaler geworden ist. Ich bilde mir ein, dass meine Muskeln in den Oberschenkeln größer geworden sind.
Aber Sie fuhren doch mit Elektromotor.
Das schon, aber mit möglichst geringer Unterstützungsstufe, damit ich die Etappen geschafft habe. Die Akkus halten ja nicht ewig. Ich musste sparsam fahren. Gerade der erste Tag war heftig mit einer reinen Fahrtzeit von etwa achteinhalb Stunden.
"Am zweiten Tag hatte ich zum Glück nur noch Wärmeschwankungen"
Da waren Sie am Tagesende bestimmt geschafft oder?
Ehrlich gesagt, nein. Ich hatte richtig Bock auf die Woche. Da spürte ich die Müdigkeit nicht so sehr. Aber die Nacht in Hilpoltstein habe ich schon sehr gut geschlafen, nachdem ich meine vier Akkus an den Strom geschlossen hatte.

Was war die größte Herausforderung in den ersten Tagen?
Das Wetter. Ich musste mich permanent umziehen. Denn mein oberstes Gebot war: trocken bleiben. Aber wenn ich dann zu warm angezogen war, weil die Sonne wieder rauskam, musste ich wieder etwas ausziehen, um nicht zu überhitzen. Am zweiten Tag hatte ich auf der Etappe nach Ermershausen zum Glück nur noch Wärmeschwankungen und nicht mehr dieses extreme Aprilwetter.
Was war der Höhepunkt des zweiten Tages?
Zwei sehr interessante Treffen. Der Grünen-Politiker Christian Harder aus Bamberg lud mich ein, in der Stadt vorbeizuradeln. Es gab einen Pressetermin. Dort habe ich auch den ersten Lastenradparkplatz meines Lebens gesehen. Ich durfte den stellvertretenden Bürgermeister der Stadt treffen, Jonas Glüsenkamp. Hintergrund war, dass Bamberg derzeit versucht, mehr Lastenräder auf die Straße zu bringen.
Und das zweite Treffen?
Der industrielle Lastenrad-Hersteller b & p Mobility lud mich in Scheßlitz ein. Auch da bin ich vorbeigeradelt. Ich durfte eines der Schwerlast-Räder probefahren. Ein sehr stabiles Gerät, für richtig schwere Gegenstände. Vielleicht fahre ich mal mit so einem Schwerlast-Rad zu Demonstrationszwecken durch München. Das haben wir ausgemacht.
Und dann ging es weiter, wohin nämlich?
Eben Ermershausen, im Landkreis Haßberge, direkt an der Grenze zu Thüringen. Tolle Landschaft. Sanfte Hügel, die mit Raps bewachsen sind.
Hatten Sie Zeit, grundsätzlich die Landschaft zu genießen?
Leider nicht. Dafür waren die Etappen zu lang. Wie gesagt, ich hatte eigentlich kaum Zeit für Pausen.
Aber Sie werden sich bestimmt auf der Fahrt umgesehen haben.
Selbstverständlich. Da hat sich schon gezeigt, dass Deutschland eine sehr vielfältige Landschaft hat und man bestimmt jedes Jahr neue Urlaubsziele entdecken kann.
"Das Navi hat mich kilometerweit völlig falsch geleitet"
Wie war die erste Etappe außerhalb Bayerns?
Der dritte Tag meiner Tour war so ziemlich der schlimmste meines Lebens. Als Selbstständiger bin ich eigentlich gut organisiert. Aber ich hatte mich verfahren, weil mich mein Navigationsgerät, also eine App auf dem Handy, falsch geleitet hat. Ich fuhr erst mal Richtung Süden, dachte mir aber, das Navi wird schon recht haben - bis ich die Straße wiedererkannt habe, die ich am Tag zuvor Richtung Ermershausen gefahren bin.
Was war das Problem?
Das Navi hatte - warum auch immer - den Zwischenstopp Nürnberg eingespeichert. Bis ich dann wieder nach Zimmerau zurück bin, war ich schon einen Umweg von 50 Kilometern gefahren. Insgesamt wurde die Etappe dann 210 Kilometer lang - statt 160 Kilometer. Zwischendurch hat es dermaßen geschüttet. Ich kam um kurz nach 23 Uhr an, in Zeiten des Lockdowns und der Ausgangssperre. Und das klappte nur, weil ich zwischendurch in Oberellen an einer Tankstellen-Außensteckdose mein Handy und meine Akkus laden konnte.
Klingt abenteuerlich.
Da bin ich echt an meine Grenzen gestoßen. Teilweise hatte ich richtig Angst. Bei Regen in Dunkelheit an einer zweispurigen Bundesstraße entlang. Andauernd haben mich Lkw überholt. Jedes Mal habe ich gebetet, dass die mich sehen. Also, wenn mich meine Tochter in der Situation angerufen hätte, hätte ich gesagt: Sofort abbrechen.
Aber Sie haben weitergemacht.
Aufgeben kam für mich nicht in Frage. Ich habe alle Tricks der Selbstmotivation rausgeholt.
Welche?
Ich musste an den Film Forrest Gump denken, an den Satz: Lauf, Forrest, lauf! Ich habe zu mir gesprochen und Sätze wiederholt wie: Treten, Ralph, immer weitertreten. Als ich ankam, hatte ich Glück. Die Hotelbetreiber in Eschwege hatten extra für mich die Türe offen gelassen und den Schlüssel auf den Tresen gelegt. Mein Gesäß hat noch nie so geschmerzt wie nach diesen 210 Kilometern.

Was waren die schönsten Erlebnisse?
Die tollen Begegnungen und der Austausch mit den Menschen: Das politische Treffen in Bamberg, der Lastenradhersteller in Scheßlitz, Tinka aus Hildesheim, die mich zwei Stunden auf ihrem Lastenrad begleitet hat, bis Hannover. Tinka hat in Hildesheim einen Lastenradverleih, namens "Hilde Lastenrad". Und der ist völlig kostenlos! Der Verleih finanziert sich über Spenden und Sponsoring. Und dann traf ich noch in Buchholz, an meinem nächsten Stopp, drei Lastenradler der Initiative "Buchholz fährt Rad". Sie haben mich nach dem Frühstück empfangen. Auch hier werden die Lastenräder kostenlos an die Bevölkerung geliehen. Und zum Schluss traf ich noch eine Redakteurin in Westerland sowie den dortigen stellvertretenden Bürgermeister. Lutz Bäucker vom ADFC hatte einige dieser Treffen für mich arrangiert, nachdem er im Vorfeld den AZ-Artikel über mich gelesen hatte.
"Die Realität war deutlich intensiver als die Vorstellung"
Hatten Sie eigentlich irgendwelche Pannen?
Nein. Ich musste nur darauf achten, dass die vier Akkus über die Etappen halten.
Was würden Sie anders machen, wenn Sie die Strecke noch mal fahren?
(überlegt einige Sekunden) Ich würde die Etappen kürzer planen - wie auf dem letzten Abschnitt von Albersdorf nach Niebüll. 95 Kilometer, das war entspannt. 150 Kilometer ist doch recht sportlich. Das funktioniert schon, aber man hat keine Zeit, die Fahrt zu genießen. Einfach irgendwo sitzen und ins Grün schauen, mehr Freiräume haben.
Sie haben so etwas zum allerersten Mal gemacht, waren zwei Wochen weg. Sind Sie gedanklich wieder hier?
Das schwankt. Die Realität war deutlich intensiver als die Vorstellung, diese 1.100 Kilometer zu radeln. In der Woche Urlaub auf Sylt, nach dem Trip, habe ich gar nicht mehr an die Fahrt gedacht. Im Nachhinein muss ich vor allem an diese gefährliche Nacht bei Regen denken. Aber ich erinnere mich auch gerne an diese ganze Woche, an viele Momente, habe mir alle Zeitungsartikel ausgedruckt, die auf der Fahrt entstanden sind.

Sind Sie auf den Geschmack gekommen? Planen Sie einen ähnlichen Trip in Zukunft?
Ich komme ursprünglich vom Bodensee, habe dort Verwandte. Und ich könnte mir vorstellen, mit meiner Tochter und meiner Lebensgefährtin in kurzen Etappen bis dorthin zu fahren, mit zwei oder drei Übernachtungen. Aber wichtig wäre, dass alle radeln. Ich glaube, bei der langen Strecke würde es meiner Tochter langweilig werden, wenn ich sie im Lastenrad mitnehme.
"Wumms, aussteigen, völlig woanders - mit Flieger, das irritiert mich"
Ich hatte mal eine Arbeitskollegin, die ist nie geflogen, weil es sie überforderte, nach zwei Stunden plötzlich irgendwo anders zu sein. Sie fuhr lieber Zug. Sie sind über sieben Tage auf Sylt angekommen. Wie war das für Sie?
Es geht mir ähnlich. Mir wurde bewusst, was es eigentlich bedeutet, sich so eine Strecke auf dem Rad zu erarbeiten. Es fühlt sich besser an. Mich hat das auf früheren Flugzeugreisen auch irritiert, dieses: Wumms, aussteigen, völlig woanders. Aber ehrlich gesagt: Man kann auch nicht in jeden Urlaub mit dem Radl fahren.