Kleine große Gipfelstürmer

München – Ferdinand hängt in 20 Metern Höhe an der Wand und will mehr Action. „Schaaaukeeeln!“, ruft er nach unten, seine helle Stimme hallt an Wänden des ehemaligen Kartoffelsilos wider. Er lächelt. Etwas angestrengt, aber es ist ein Lächeln. Unten steht Timon, sichert den Buben im Spiderman-Pullover und will aber eigentlich lieber selbst klettern. Sofort.
Nichts davon ist selbstverständlich. Ferdinand und Timon sind geistig behindert. „Oft haben die Kinder, die herkommen, ein viel geringeres Selbstbewusstsein als andere Kinder“, sagt Klettertrainerin Sanna Peteranderl. „Sie trauen sich anfangs weniger zu, ihnen wird ja ständig in vielen Bereichen gezeigt: Du kannst nicht dasselbe, wie alle anderen.“
Jugendliche Co-Trainer sollen später helfen, die Kinder und Jugendlichen in reguläre Gruppen zu integrieren
Genau deshalb gibt es seit Oktober „Bayerns beste Gipfelstürmer“ – ein inklusives Kletterprojekt der IG Klettern München und Südbayern e.V. für Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Es geht darum, Menschen zwischen 6 und 27 Jahren barrierefreien Zugang zum Sport zu ermöglichen und sie irgendwann in reguläre Klettergruppen zu integrieren.
Die Viertklässler Ferdinand und Timon klettern mit einer kleinen Gruppe von der Friedel-Eder-Schule einmal pro Woche im Heavens Gate auf dem Gelände der Kultfabrik am Ostbahnhof. Von Montag bis Donnerstag sind dort Gruppen mit geistig behinderten Kindern, Mittwochs sind ehemals krebserkrankte Kinder da und am Donnerstag junge Flüchtlinge.
Auf sie alle muss man sich individuell einstellen. Kinder wie Ferdinand, Timon und Lorenz zum Beispiel sind leicht abzulenken. „Das ist auch bei anderen Kindern so“, sagt Sozialpädagogin Peteranderl, „aber etwas mehr muss man schon auf alles achten.“
Und die Mittwochsgruppe, deren Mitglieder etwas älter sind, „ist extrem reif für ihr Alter. Sie sind sehr viel konzentrierter und sichern sich gegenseitig auf eine sehr erwachsene Art“, sagt Peteranderl. Pro Gruppe ist jeweils ein speziell geschulter Klettertrainer mit sozialpädagogischem Hintergrund da und ein Co-Trainer – ein sogenannter Scout. Das sind jugendliche Klettersportler vom Heavens Gate, die später dabei helfen sollen, die Nachwuchskletterer früher oder später in die anderen Gruppen aufzunehmen. Alle sollen sich gegenseitig Mut machen und Vertrauen geben.
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„Man merkt deutlich, dass das die Kinder verändert“, sagt der Klassenleiter
Timon zum Beispiel hat sich anfangs gar nicht an die Wand getraut. Inzwischen klettert er ohne zu zögern auf acht Meter Höhe. Und Ferdinand ist schon mehrmals bis zur Spitze des Siloturms gekommen – immerhin 30 Meter. Dort hat er seinen Namen in das „Gipfelbuch“ geschrieben. Pffft, macht er, als es um die Höhe geht. „Da hab ich keine Angst mehr.“
„Man merkt deutlich, dass das die Kinder verändert“, sagt Klassenleiter Daniel Lembgen. „Sie bekommen mehr Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, sie lernen Vertrauen in einen Partner durch das gegenseitige Sichern und Helfen. Es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl.“
Die Kletterkurse werden durch eine Elternberatung und spezielle Kletterangebote für Familien sowie durch ein Rahmenprogramm ergänzt. In den Osterferien zum Beispiel gibt es noch eine Kletterausfahrt mit einer Übernachtung in der Halle für eine gemischte Gruppe (8./9. April), für die sich junge Heavens-Gate-Mitglieder anmelden können.
Zumindest für drei Jahre ist das Projekt finanziell gesichert, teilgefördert über die Aktion Mensch. Die Mittel reichen allerdings beispielsweise nicht für weitere Trainer für die immer größer werdende Flüchtlingsgruppe oder auch eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes. Und auch Scouts werden immer gesucht.
Wie es inhaltlich weitergeht, wird man im kommenden Oktober sehen. Wenn Ferdinand und Timon und Lorenz und all die anderen nach einem Jahr hoffentlich bereit dafür sind, in einer regulären Gruppe zu klettern. Und zu schaukeln. Was man eben so tut als Kind.