Kein Vergleich zu heute: Unsere kleine Welt am Schlachthof

Neue Bars, viel Streetart - und nun auch noch das Volkstheater: Das Schlachthofviertel wird immer mehr zum Szene-Treffpunkt. Unser Autor hat es noch ganz anders in Erinnerung. Aus der Zeit vor und unmittelbar nach dem Kriege.
Karl Stankiewitz |
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Eine Postkarte, die an die Öffnung des Schlachthofs 1878 erinnern sollte.
Eine Postkarte, die an die Öffnung des Schlachthofs 1878 erinnern sollte. © Stadtarchiv

München - "Glosscheamviertel" - so lästerte man im alten München über Stadtteile mit Herbergen aus Holz, mit ungepflegten Mietskasernen, lauten Hinterhöfen und Boazn, Dreck, Gestank und - daher wohl der Spottname - Scherben von Bierflaschen oder zerbrochenen Fenstern.

Selbst volksnahe Spaziergänger wie Sigi Sommer oder der leider vergessene Karl Spengler kamen von derart fragwürdigen Beschreibungen nicht ab. Verkommen? Nein, ein Wohnviertel der kleinen Leute halt Betroffen waren zeitweilig die Au, Haidhausen, Giesing, das Glockenbachviertel und Teile des Lehels. Auch das Geviert zwischen Lindwurmstraße und Isar, zwischen dem 1985 aufgelassenen Südbahnhof und dem Alten Südfriedhof, wo schon seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr bestattet wurde, offiziell Isarvorstadt, war ziemlich verrufen.

Viertel der Handwerker, Arbeiter und Zuwanderer

Verkommen war es nicht. Es war halt ein Wohnviertel der kleinen Leute: der Handwerker, Arbeiter, Kleinhändler - und zahlloser Zuwanderer. Einer jener frühen Migranten war mein Großvater. 1911, im Alter von 42 Jahren, war Franz Vogl nach "Ableisten seiner Landsturmpflicht!", wie sein Pass ausweist, mit Frau und der dreijährigen Elsa, meiner Mutter, aus dem oberösterreichischen Bezirk Vöcklabruck eingewandert. Dem Hufschmied hatte das Dampfross die Existenzgrundlage zertrampelt.

München indes "leuchtete", wie der Zuwanderer Thomas Mann schon 1901 gedichtet hatte. Seine 600.000 Einwohner waren größtenteils gut versorgt. Die Gemeindearbeiter hatten sogar eine Gewerkschaft, die erstmals um Tarifverträge kämpfte.

Hier lebte die Familie: Das Haus an der Tumblingerstraße 11 heute.
Hier lebte die Familie: Das Haus an der Tumblingerstraße 11 heute. © Sigi Müller

Opa wurde Lagermeister bei der neuen städtischen Straßenbahn, die man "Elektrische" nannte. Sein neuer Lebensmittelpunkt wurde die Tumblingerstraße, die als 650 Meter lange Magistrale mitten durchs "Glasscherbenviertel" trassiert war. Namenspatron ist Zunftmeister Michael Tumblinger, übrigens der Erfinder des Metzgersprungs.

Das Haus Nummer 11 war - und ist gewiss heute noch - ein typisches Vorstadt-Domizil. Auf jede Etage waren viele, aber sehr enge Räume gequetscht. Abwechselnd wohnten dort - außer meinen Großeltern - deren sechs Kinder. Meine geschiedene Mutter und mich brachten sie im fensterlosen Kammerl unter; die jüngeren Geschwister kamen ins städtische Kinderasyl.

Rundfahrt mit 12er Tram

Opa war inzwischen zum Lagermeister aufgestiegen. Er liebte seine "Tramway"; das Wort Straßenbahn mied er. Gern lud er mich zur Rundfahrt mit der Zwölfer ein, die am Kapuzinerplatz hielt und den Südring bediente. Stolz zeigte er mir, kaum hatte Hitler im Mai 1937 den ersten Spatenstich getan, die tolle U-Bahn-Baustelle am Goetheplatz.

Das Dröhnen der Dampfhämmer und der Rauch wehten übers ganze Viertel. Gemischt mit anderen Geräuschen und Gerüchen. Vorherrschend der köstlich malzige Duft aus der Großbrauerei, der Flanke zwischen Kapuzinerstraße und Maistraße, mit Säulenhalle und Garten und Straßenschänke, wo ich regelmäßig das Dunkle für Opa im Maßkrug abholen musste.

Auch das Blöken der Kälber, die in offenen Lastwagen ununterbrochen zum Schlacht- und Viehhof transportiert wurden, und die eher unangenehmen Dünste der Großställe hinter dem Kapuzinerplatz mischten sich in die Symphonie vom früheren Schlachthofviertel.

Ruhe und Bildung fand ich in der Klosterkirche St. Anton, wo ein wunderschönes Kripperl zu bestaunen war, im Alten Südlichen Friedhof, wo mir Opa das historische München nahebrachte, und in der Volksschule schräg gegenüber, wo ich schnell den Vorstadtdialekt lernte.

Keiner in der Familie kann die Nazis leiden. Außer einem

Der Einwanderer Franz Vogl beharrte auf seinem eigenwilligen Wortschatz. Mich nannte er nur Heinzi, wie ich nie hieß. Die Nazis, deren Führer ebenfalls aus Oberösterreich zugewandert war, bezeichnete er abfällig nur als "die Hitlers". Keiner in unserer Großfamilie konnte die Hitlers leiden. Außer Onkel Franz, der gern in brauner SA-Uniform herumstolzierte und mich watschte, wenn er nicht den vorgeschriebenen Kurzhaarschnitt bemerkte. Dann bezahlte mir Opa halt den Friseur.

Der Großvater Franz Vogl.
Der Großvater Franz Vogl. © Archiv Karl Stankiewitz

Immer wieder gab mir Opa ein paar Zehnerl oder gar mal ein Markl sowie gute Ratschläge. Später las ich im Buch eines anderen "Esterreichers", den es ins Reich, nach Traunstein, verschlagen hatte, den schönen Satz: "Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen." So weit wie Thomas Bernhards Opa, der sogar erklärte, wie man eine Brücke sprengt (theoretisch), ging der meine nicht. Mich freute schon das Fuchzgerl, das er fürs Oktoberfest 1938 springen ließ. Es war die letzte Wiesn bis 1946. Der U-Bahn-Tunnel wurde Luftschutzkeller, später zugeschüttet, dann wieder aufgegraben. Das Bier, Nahrungsmittel bei Familie Vogl, wurde dünner.

Das kleinbürgerliche Leben hatte sich nur unwesentlich verändert, als ich gleich nach der Befreiung von den Hitlers - nach Aufenthalten in Heimen und vormilitärischen Lagern - noch einmal in der Tumblingerstraße 11 einzog. Es wurde leerer. Tante Berta hatte ihren Mann schon in Polen verloren, um ihren Buben kümmerte ich mich ein bisschen. Onkel Franz ließ seine Uniform verschwinden.

Onkel Willis Tochter Helga wanderte mit ihrem Bill nach Nordamerika aus, meine Schwester Irmgart mit ihrem Demetrio nach Mexiko. München leuchtete nicht mehr. In meinem Zimmerchen hortete ich einen Rest von den zehn Flaschen Arrak, die ich bei der großen Münchner Volksplünderung vom 1. Mai 1945 erbeutet hatte.

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Arrak half, den Winter durchzustehen

Das hochprozentige Exotikum half meinem nun 75-jährigen Großvater, die erbärmliche Kälte des Winters 1946/47 durchzustehen. Die "Gebrüder Thomas Bierbrauerei" hatte allerdings nur noch provisorischen Betrieb. (Sie wurde bis 1950 wieder aufgebaut und 1999 dem Paulaner-Konzern vollends einverleibt). 

Opa war zufrieden. Vom Schlachthof drüben holte sich der Klapprige fast jeden Morgen im Blechhaferl frische Fleischbrühe, in die er eine alte Semmel brockte; das Nasentropfel kam oft dazu. Meiner Oma genügte es, wenn sie ins Bier ein Ei verrühren konnte. Kochen wollte sie lieber auf dem alten vorsintflutlichen Herd, die Kohlen schleppte ich aus dem Keller.

Dem Gas misstraute sie; man hörte von Unfällen, Sigi Sommer berichtete von zahlreichen Selbstmorden. Nach Opas Tod wurde die aus einem Bauernhof stammende Greisin in eine noch engere Wohnung mit Etagenklo umgesiedelt, wo sie für meine Kinder in der Schatulle immer ein Fünfmarkstückl parat hatte. So war es, das Leben der kleinen Leute in unserer kleinen Vorstadt.


Siehe die Bücher "Eine Jugend in München" und "Münchner Meilensteine".

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6 Kommentare
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  • Dr. Schönfärber am 14.11.2021 19:10 Uhr / Bewertung:

    Heute ist halb München Glasscherbenviertel.

  • Largo am 14.11.2021 17:56 Uhr / Bewertung:

    Das finde ich auch, ich kannte den Autor bisher gar nicht.
    Einen schönen Schreibstil hat er, ich hab mir grad das Buch bestellt.

  • Noredundgreen13 am 14.11.2021 17:08 Uhr / Bewertung:

    Die Schwantaler Höh war ganz sicherlich nicht das Glasscherbenviertel. Das war Giesing!

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