"Jetzt helfen Sie den Leuten doch": Münchner Rettungsdienste trainieren für herausfordernde Notfallsituation
München - Der erste Rettungswagen fährt mit Blaulicht vor. Statt direkt mit dem Rettungsrucksack die Verletzten zu versorgen, streift sich Stefan Hansen (31) eine gelbe Warnweste über. "Einsatzleiter" steht nun auf seinem Rücken. Hansen und seine beiden Kollegen wurden per Funk aus ihrem normalen Dienst zu einer Übung gerufen: Es ist eine Großlage, mehr als zehn Verletzte, darunter Schwerverletzte.
In so einem Fall kommt der Besatzung eines Rettungswagens eine Sonderrolle zu. Als vorläufiger Einsatzleiter muss Stefan Hansen sich schnell einen Überblick verschaffen, Rückmeldung an die Leitstelle geben und alle eintreffenden Einsatzkräfte koordinieren. In der großen Halle in einem Daglfinger Wohngebiet sieht es an diesem Mittwoch aus wie an einem Filmset. Am Boden verteilt liegen Laienschauspieler, die stöhnend und rufend Verletzte mimen.

Das Szenario ist Folgendes: Ein PKW mit zwei Insassen hat eine Gruppe von Radfahrern und Fußgängern gerammt und dabei mehrere Personen schwer bis lebensbedrohlich verletzt. Der Rettungsdienst trainiert hier gemeinsam mit Feuerwehr und Notärzten den "MAN", den "Massenanfall von Notfallpatienten", wie es in der Fachsprache heißt. 27 Mal bauen die Übungsleiter das gleiche Szenario in dieser Woche auf. So oft wird sie wiederholt, dass insgesamt 500 Einsatzkräfte die Übung durchlaufen - die meisten davon spontan aus dem Rettungsdienst heraus.
Übung für Einsatzkräfte in München: Handeln gegen die eigene Intuition
Als Einsatzleiter Stefan Hansen jetzt zur Unfallstelle läuft, stürmt direkt der Mann auf ihn zu, der den Notruf abgesetzt hat. "Jetzt helfen Sie den Leuten doch", ruft er. Aber Stefan Hansen steht da, zählt und funkt. Er darf sich auch von den offenbar verletzten Menschen am Boden nicht aus dem Konzept bringen lassen. Auch das Team des nächsten Rettungswagens, der auf den Hof fährt, darf sich noch nicht um die Erstversorgung kümmern. Die drei Notfallsanitäterinnen müssen als zweites am Unfallort automatisch die Rolle derjenigen, die die Patienten sichten, übernehmen. Sie fordern diejenigen, die nur leicht verletzt sind und selbst gehen können, auf, sich an einem Punkt etwas abseits zu sammeln.
Auf dem Asphalt liegen oder sitzen jetzt noch neun Schwerverletzte. Jedem der Schauspieler wurde vorher eine andere Verletzung und Schwere zugeteilt. Wer ansprechbar ist und keine lebensbedrohlichen Verletzungen hat, bekommt von den Sanitäterinnen eine gelbe Karte angeheftet. Die steht für: schwer verletzt, aber nicht lebensbedrohlich. Wer die rote Karte bekommt, schwebt dagegen in Lebensgefahr. Nach wenigen Minuten trifft der dritte Rettungswagen ein, dessen Team hat die Aufgabe, sofort die ersten roten Patienten zu versorgen.
Defibrillator, Sauerstoff: Bei der Übung zum Massen-Unfall wird alles genau durchgespielt
Jetzt ist auch die Notärztin eingetroffen, sie koordiniert unter den Ersthelfern, wer behandelt wird. Zwei Rolltragen mit Defibrillator, Sauerstoff und Infusionen werden jetzt zu den Schwerverletzten gefahren. Elisabeth Buchberger kniet über einem der Darsteller am Hallenboden. "Der 19-Jährige hat eine Beckenfraktur, die einbluten könnte, mit der Gefahr, dass das Gehirn nicht genügend mit Sauerstoff versorgt wird."
Deshalb haben sie den Patienten mit einem Beckengurt stabilisiert und würden ihn als Nächstes auf einer Vakuummatratze für den Transport fertig machen. Zur gleichen Zeit bereiten die Besatzungen von zwei großen Feuerwehrlastern eine sogenannte "separate Patientenablage" vor. Ein mit Warnleuchten und Warndreiecken abgestecktes Feld, auf dem sie zusätzliche Liegen und Erste-Hilfe-Kits bereitstellen.

Doch dann wird die Übung von Roman Leitow (44) und den drei anderen Übungsleitern von Feuerwehr, Maltesern und dem Roten Kreuz plötzlich abgepfiffen. Es ist Schluss. Dabei sind noch längst nicht alle Patienten erstversorgt. "Uns geht es heute vor allem um diese kritischen ersten zehn Minuten", sagt Leitow von der Münchner Berufsfeuerwehr. "Wie klappen die Absprachen, werden die Patienten schnell und richtig gesichtet, wie ist die Rücksprache mit der Leitstelle?"
Die Verletzten bei der Rettungsübung in München sind nicht echt, es sind Schauspieler
Und was jetzt? Verletzten-Darsteller Theo Hubrich liegt immer noch unter dem Heck des Unfallwagens, eine gelbe Karte um den Hals. "Meine Beine wurden überfahren", sagt er auf Nachfrage. Er macht sein Freiwilliges Soziales Jahr bei den Maltesern, andere Schauspieler sind Auszubildende. "Wenn ich jetzt wirklich so verletzt wäre, wäre das hart. Die laufen alle links und rechts an einem vorbei und es hilft dir keiner", schildert Hubrich aus der Perspektive des Unfallopfers. Aber Priorität hätten in den ersten zehn Minuten eben die lebensbedrohlich Verletzten.

Inzwischen stehen die Einsatzkräfte alle in einem großen Kreis. Es gibt Feedback. Die vier Übungsleiter gehen alle Rollen einzeln durch. Den Anfang macht wieder Notfallsanitäter Stefan Hansen. Es sei das erste Mal gewesen, dass er in die Rolle des Einsatzleiters schlüpfen musste. Die Übungsleiter sind zufrieden. Er habe gut koordiniert und der Leitstelle sinnvoll Rückmeldung gegeben. Einziger Verbesserungsvorschlag: Er hätte den Verletzten am Anfang zurufen sollen: "Wer kann sich bewegen, bitte die Hand heben!" So sei eine schnellere, erste Einschätzung möglich, wie viele noch ansprechbar sind oder sich bewegen können.
Kritik nach der Übung: Verbesserungsmöglichkeiten bei der Notfallversorgung
Dem Sichtungsteam aus dem zweiten Rettungswagen wird aufgetragen, künftig die Begutachtung bei denen zu starten, die augenscheinlich am schwersten verletzt sind. Und das Team aus Rettungswagen III sei ohne Ausrüstung zur Unfallstelle gegangen. "Aber als dritter Rettungswagen ist klar, dass ihr für die roten Patienten zuständig seid, also braucht ihr auf jeden Fall Liege und Rucksack", sagt einer der Übungsleiter. Solche Großeinsätze mit mehr als zehn Verletzten sind für die Einsatzkräfte zum Glück keine Routine, erklärt Roman Leitow. Umso wichtiger seien solche praktischen Übungen, um das Zusammenspiel der Einsatzkräfte zu trainieren.
Als Stefan Hansen um sechs Uhr morgens zu Dienstbeginn in der Einsatzleitstelle ankam, habe er nicht gewusst, was ihn erwarten würde, sagt er. Vor acht Jahren hat er seine Ausbildung angefangen. In seinen Einsätzen spricht er meistens sofort mit den Patienten, versorgt zusammen mit den Kollegen beispielsweise eine Frau mit Schlaganfall oder stabilisiert den Bauarbeiter, der gestürzt ist. An diesem Morgen war sein Job ein ganz anderer. Ob er gerne direkt geholfen hätte? "Das darf uns in so einem Fall nicht passieren, denn wenn ich meine Rolle verlasse, bricht die ganze Struktur zusammen."
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