Interview: „Recycling? Der Bürger wird im großen Stil verscheißert“

München - Fast die Hälfte des Verpackungsmülls in Deutschland wird verbrannt statt wiederverwertet, zeigt eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen. Die Grünen fordern bessere Recycling-Quoten: Das nützt allerdings alles nichts, sagt Helmut Schmidt, Zweiter Werkleiter des Abfallwirtschaftsbetriebs München im Interview mit der AZ.
Schmidt arbeitet seit 1990 beim Abfallwirtschafts- betrieb München (AWM). Seit 2002 ist er als Zweiter Werksleiter des AWM zuständig für das operative Geschäft.
AZ: Herr Schmidt, Sie sagen, es sei beim Recycling alles "noch viel schlimmer", als die Bundesregierung angegeben hat. Was meinen Sie genau?
HELMUT SCHMIDT: Die Antwort der Bundesregierung ist schon richtig. Es wird doppelt so viel recycelt, wie die EU mit 22,5 Prozent vorschreibt. Aber bei dieser Zahl geht es nicht um tatsächliche Wiederverwertung. Sie zeigt nur an, was dem Kreislauf zugeführt wird.
Welche Zahl ist aus Ihrer Sicht realistischer?
Es werden am Ende weniger als 20 Prozent von dem verwertet, was man reingeschickt hat. Wir haben das mal recherchiert: Von 25 Kilogramm Verpackungen, die ein Mensch in Deutschland pro Jahr in diesen Kreislauf gibt, gehen gerade mal fünf Kilo wirklich ins Recycling.
Wieso passiert das?
Das Problem ist, dass man mit Verpackungsmüll ein Produkt erzeugt, das am Markt nichts wert ist. Es wurde schon Papier aus Papiertonnen geklaut, Metall aus Sammelcontainern – aber sicher noch nie auch nur ein Gelber Sack.
Die Grünen fordern ja eine bessere Quote.
Egal, welche Quoten man in ein Gesetz schreibt: Wenn am Ende des Aufbereitungsprozesses nicht ein Sekundärstoff rauskommt, der nachgefragt wird, ändert sich das System nicht. Man kann Hartplastik vernünftig aufarbeiten, auchFolien – aber nicht Mischkunststoffe, die aus Verbundstoffen bestehen, die auch noch geruchsbelastet sind. Ein Bremer hat mal ermittelt: 70 Prozent der Verpackungen bestehen aus Mischkunststoffen. Bei denen liegt die Wiedereinsatzquote nur bei zwei Prozent.
Das ist sehr unschön, aber ja kein Gehemnis: Sie erzählen das seit Jahren in Seminaren. Wieso ändert sich nichts?
Recycling lässt sich supergut verkaufen, das wird quasi als Werk Gottes angepriesen. Der Grüne Punkt ist das intelligenteste System, das sich jemals jemand ausgedacht hat, um dem Bürger das Geld aus der Tasche zu ziehen: Der Käufer bezahlt das System schon, weil die Verpackung auf den Preis draufgeschlagen ist. Das ist ein Markt, der in Deutschland 1,2 Milliarden Euro bringt. Und daran verdienen viele Akteure.
Es gibt das Argument, es werde so viel Müll aus der Gelben Tonne verbrannt, weil es Überkapazitäten bei den Müllverbrennungsanlagen gibt.
Das gilt schon lange nicht mehr. Die gewerblichen Abfallentsorger würden uns 100 000 Tonnen mehr im Jahr verbrennen lassen, wenn wir könnten.
Was könnte man tun, um dieses System zu ändern?
Es ist verdammt schwer, Vernunft in die Politik reinzubringen, ich habe das schon mehrfach versucht. Die Vertreter des Umweltministeriums haben nur die Zuführungsquote im Blick. Man versucht jetzt über das Verpackungsgesetz, diese Quote anzuheben und dafür eine zentrale Überwachungsstelle zu schaffen. Das ist aber ein riesiger Bürokratismus, den der Bürger bezahlen muss. Und es wird nicht viel bewegen: Bei Sammlung, Sortierung, Aufbereitung sind so viele Akteure am Werk, das kann man nicht bis zum Schluss überwachen.
Mülltrennung ist aber grundsätzlich immer noch gut.
Mit Mülltrennung können die Deutschen ihr Gewissen beruhigen. Sie haben aber gar keine Möglichkeit, viel zu ändern – sie sind ja nicht dafür verantwortlich, dass Verbundstoffe in die Welt gesetzt werden. Und es gibt in Deutschland auch kein Symbol oder ähnliches, das beim Kauf anzeigt, dass das Material gut recycelbar ist. Es ist sowieso pervers: Vieles geht am eigentlichen Problem vorbei. Unser Ressourcenbrauch ist viermal so groß wie der Weltdurchschnitt. Die popeligen Verpackungsmengen retten nicht die Welt.
Irgendwas muss ein einzelner Mensch trotzdem tun können.
Auf Mehrweg achten. Plastiktüten vermeiden. Gern auch in verpackungsfreien Läden einkaufen. Mit denen und dem Handel bereiten wir gerade eine Abfall-Vermeidungs-Kampagne für 2017 vor. Wissen Sie, ich habe noch den Anspruch, die Welt zu ändern. Und mich ärgert einfach, dass der Bürger hier in großem Stil verscheißert wird.
Was kann ich als Einkäufer tun?
Viele Gemüse- und Obstsorten gibt es auch nicht eingeschweißt: Einfach lose aufs Kassenband legen und im Stoffbeutel nach Hause tragen.
Reis, Nudeln, Haferflocken und andere Getreideprodukte kann man in fast jedem Markt in Papierverpackungen kaufen, oft auch Käse, Wurst und Fleischwaren von der Frischetheke. Immer mehr Milchprodukte wie Joghurt, Milch oder Sahne gibt es in Gläsern.
Beim Kauf von Zahnpasta, Duschgel und Cremes darauf achten, dass sie kein Mikroplastik enthalten – meist mit „Mikro-Kügelchen“ oder „Perlsystem“ umschrieben.
Ganz ohne Verpackungsmüll einkaufen kann man zum Beispiel hier:
"OHNE": Komplett verpackungsfreier Supermarkt, die meisten Produkte stammen auch aus der Region, Schellingstraße 42
"Plastikfreie Zone": Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs sind hier nicht in Plastik, sondern in Papier oder Pappe verpackt, Schlossstraße 7
"Lebenskunst": Bioladen in Freising, der Haferflocken, Reis, Nudeln, Nüsse oder Hülsenfrüchte in großen Abfüll-Behältern verkauft, Rindermarkt 11, 85354 Freising