In den Katakomben des Münchner Justizpalastes
München - Andrea Schmidt blickt nach oben, an das Ende der alten Treppe. Gitter ersetzen das Geländer. Sie sollen Angeklagte von Suizidversuchen abhalten. Hier hinauf wurden die Mitglieder der Weißen Rose zu ihrem Prozess geführt. Heute ist der Aufgang mit einer Glasplatte verschlossen. Die Treppe führt ins Nichts.
Der Rundgang durch den Justizpalast beginnt ein Stockwerk tiefer, im Kohlekeller. Schmidt, die Präsidentin des Landgerichts, hat zu der besonderen Führung eingeladen. Obwohl im Keller schon lange keine Kohle mehr gelagert wird, riecht es immer noch danach. Die rußigen Backsteinwände hinterlassen schwarze Flecken auf der Kleidung. Statt Kohle stapelt sich heute hier Papier.

Akten aus Zeiten des Naziregimes
In hohen Metallregalen zwischen vergilbten Pappdeckeln erzählt es von den Verbrechen des Naziregimes. "Hier sind die Akten von Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Entschädigungsansprüche hatten", erklärt Schmidt. "Eigentlich haben wir keinen Platz, aber wir müssen alles aufbewahren."
Der Durchgang hinter den Regalen führt in eine kleine Kammer mit einer tiefen, gewölbten Decke. Es ist eng und beklemmend. "Hier hat mal jemand gewohnt", erklärt Schmidt. Die Wände sind mit der Zeit grau geworden, doch die grüne Wandfarbe und eine Zierleiste zeugen noch von den ehemaligen Bewohnern.
"Kein Fenster, aber eine Bordüre", sagt Schmidt. "Und natürlich in guter Lage." Wer hier wohnte, weiß keiner mehr. Dann fällt ihr Blick auf ein paar löchrige Gemälde, die an der Wand lehnen. "Ist das Max Joseph?", fragt die Präsidentin. "Vielleicht kann ich den ja mal restaurieren lassen."

"Da gingen Hans und Sophie Scholl hinauf"
Ein Stockwerk über dem Kohlekeller befindet sich die Treppe. Gelbes Licht beleuchtet die grauen Metallgitter, des Aufgangs. Einst wurden hier Angeklagte von der Haftzelle in den Gerichtssaal geführt. "Da gingen Hans und Sophie Scholl hinauf", erklärt Schmidt. "Wahrscheinlich auch Vera Brühne." Den Saal, in dem die Geschwister Scholl zum Tode verurteilt wurden, gibt es heute nicht mehr. Er wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt. Doch die Treppe unten im Keller: Sie ist noch genauso wie früher.
Im Gegensatz dazu hat sich im alten Luftschutzbunker viel verändert. Hier ist alles verputzt, das kalte Licht der LED-Röhren beleuchtet den schmalen Gang. Auf beiden Seiten stapeln sich Akten auf den Regalen, bunte Zettel ragen aus den Seiten heraus. Es riecht nach Papier. "Wir müssen alle Gerichtsakten für fünf Jahre lagern", erklärt Schmidt. "Dann wird der Inhalt weggeschmissen, doch die Titelseite wird für weitere 30 Jahre aufgehoben." Über die Türbögen der Bunkerräume hat jemand mit Edding die Jahreszahlen der Fälle geschrieben: "2003, 2001/2002, 1999".

An den Türen vorbei geht es einen langen, niedrigen Gang entlang in einen weiteren Bunkerraum. Ein Justizmitarbeiter zeigt auf den Boden. "Hier waren dicke Wände, damit im Krieg nicht durch den Gang geschossen werden konnte", erklärt er. "Wir haben sie rausgenommen und den Boden geebnet, damit wir hier mehr Dokumente lagern können." Auch im nächsten Bunker steht alles voller Akten. "Eigentlich haben wir viel zu wenig Platz", sagt Schmidt.
„Das ist der Weinkeller des Präsidenten des Oberlandesgerichts“
Zwischen den Regalen tut sich eine kleine Kammer auf. Sie ist mit einem Gitter verschlossen, scheint aber bis auf zwei graue Kisten leer zu sein. "Das ist der Weinkeller des Präsidenten des Oberlandesgerichts", erklärt der Justizbeamte. "Früher konnte man sehen, welchen Wein er hier lagerte, aber jetzt wird er hinter den Kisten versteckt."

Über ein paar Stufen geht es wieder ins Obergeschoss des Gerichts. Hier räumt ein Justizbeamter Tische zur Seite. Zum Vorschein kommt eine Glasplatte. Durch sie ist die Treppe zur alten Haftzelle zu sehen.

"Heute ist hier nur Abstellfläche", sagt der Beamte. Und verbirgt die Treppe wieder unter den Tischen.
Berühmter Fall: Vera Brühne bricht im Justizpalast zusammen
Der Gerichtsfall von Vera Brühne beschäftigte in den 60er Jahren ganz München. Der Besucheransturm im Justizpalast legte zeitweise den Verkehr lahm, vor den Türen des Gerichts standen die Menschen Schlange.
Vera Brühne und ihr Freund Johann Ferbach waren angeklagt, den Gynäkologen Otto Praun und dessen Haushälterin umgebracht zu haben. "Aber ich bin doch, bitte, unschuldig", sagte Brühne nach dem Urteilsspruch: lebenslange Haft wegen Doppelmordes.

Später kamen immer mehr Zweifel, ein Indiz nach dem anderen bröckelt. 1979 wird Vera Brühne vom damaligen Ministerpräsident Franz Josef Strauß begnadigt, der Mord an Otto Praun wurde nie aufgeklärt. Es bleiben die Bilder vom überfüllten Gerichtssaal und der verzweifelten Angeklagten.
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