IKG-Präsidentin Knobloch spricht über Angst und die politische Lage

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch hat beim Benefiz-Abend der Bellevue di Monaco eine bemerkenswerte Rede gehalten, über Sorgen, Ängste und Wut der Menschen. Die AZ dokumentiert die wichtigsten Auszüge.
von  az/Knobloch
„Die Flüchtlingssituation stellt unseren Staat nicht nur strukturell vor eine historische Herausforderung“: Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde
„Die Flüchtlingssituation stellt unseren Staat nicht nur strukturell vor eine historische Herausforderung“: Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde © dpa

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch hat beim Benefiz-Abend der Bellevue di Monaco eine bemerkenswerte Rede gehalten, über Sorgen, Ängste und Wut der Menschen. Die AZ dokumentierte die wichtigsten Auszüge.

München - Wenn Charlotte Knobloch (84) gefragt wird, ob sie aufsteigende Wut und Sorge in sich spürt, dann nickt sie ernst. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) macht sich viele Gedanken über die gesellschaftliche Entwicklung – in München, in Deutschland, in Europa. Es sind schwere Gedanken.

Diese waren auch zu hören in ihrer Rede beim Benefiz-Abend für die Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco, die sich um Flüchtlingsprojekte in der Stadt kümmert. Hier die wichtigsten Auszüge aus der Rede:

"Bellevue di Monaco steht in mehrfacher Hinsicht für eine ,schöne Aussicht’. Vor allem jedoch zeigt das Projekt die beste Seite von unserer Stadt und den Münchnerinnen und Münchnern. Zwar ging es nie – in Anführungsstrichen – ‚nur‘ um Protest gegen städtische Wohn-Leerstände. Doch zeigte sich ungeahnt rasant und radikal, dass die Flüchtlingssituation unseren Staat nicht nur strukturell vor eine historische Herausforderung stellt. Mit einem Mal stehen das freiheitlich-demokratische System als solches, die Gesellschaft, unser mitmenschliches Miteinander auf dem Prüfstand. So wurde aus dem bürgerschaftlichen Leuchtturmprojekt für konkrete Flüchtlingshilfe vor Ort und neue Formen der Unterbringung und Betreuung in München ein Leuchtturmprojet des zivilgesellschaftlichen Kampfes gegen den braunen Geist, der durch unser Land spukt."

"Erleben ein Ausmaß an Ungeheuerlichkeiten"

"Ich begleite die politische und gesellschaftliche Entwicklung hierzulande seit Jahrzehnten – inklusive Enttäuschungen und Rückschlägen. Aber in den letzten Jahren haben wir ein Ausmaß an Ungeheuerlichkeiten erleben müssen, das ich mir nicht hätte träumen lassen. Auch ich ziehe bisweilen Ehrlichkeit politischer Correctness vor. Wenn jedoch zentrale Tabus, die unsere Kultur vor Verrohung, Rassismus, Antisemitismus, völkischer Egomanie, nationalistischer Phantasie und verschwörungstheoretischem Irrsinn bewahren sollen, förmlich niedergemäht werden, drohen zivilisatorische Dämme zu brechen – mit verheerenden Folgen.

An diesem Montag feiert Pegida München das zweijährige Bestehen – ein Jubiläum der Schande. Jetzt gerade wettern auf dem Marienplatz Spitzenvertreter der regionalen Neonazi-Szene, verurteilte Rechtsterroristen und ihre irrläufigen Anhänger wohlbehütet gegen demokratische Politiker, Juden, Ausländer, Muslime, Frauen, Homosexuelle und Andersdenkende. Für ,Wehret den Anfängen!’ ist es zu spät. ,Nie wieder!’ kann niemand mehr ernsthaft in den Mund nehmen, wenn Woche für Woche Nazi-Parolen durch die Straßen schallen und politisch motivierte Straf- und Gewalttaten immer neue Rekorde erreichen. Wenn wir ehrlich sind, ist doch längst Alltag, was vor Jahren noch nicht denkbar schien."

"Stehen an historischer Schwelle"

"Bellevue di Monaco oder auch ,München ist bunt’ setzen sich dafür ein, dass diese braune Renaissance nicht Normalität wird. Noch ist es nicht zu spät. Das sage ich gerade mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen. Ich bleibe dabei, dass wir die destruktiven antidemokratischen, antiliberalen und antimodernen Tendenzen in unserem Land – und in Europa – mit aller Kraft bekämpfen müssen. Ich habe erlebt, wie schnell und schonungslos aus Hass zerstörerischer Furor wird – unaufhaltsam. Und ich habe mein Leben der Mission gewidmet, dass keine weitere Generation mehr diese Erfahrung machen muss.

Ich bin überzeugt, dass wir an einer historischen Schwelle stehen. Es geht um die Zukunft unseres Landes, unserer Stadt, unserer Gesellschaft als Miteinander. Wenn dieses Wahljahr zu einem weiteren Spaltjahr wird, ist die demokratische Verfasstheit unseres Staates in Gefahr. Die jüdische Gemeinschaft begleitet die letzten Jahre mit wachsender Sorge. Wir haben das freundliche Gesicht der Bundesrepublik anfangs als sehr wohltuend empfunden – gerade die emotionalen Bilder aus München als Hauptstadt der Menschlichkeit. Viele Mitglieder der Gemeinde und auch die Kultusgemeinde als solche haben sich aktiv in die Hilfe für Geflüchtete eingebracht – tun das bis heute.

Zugleich gibt es auch in unserer Gemeinschaft – das gebe ich unumwunden zu – berechtigte Sorgen, dass Wohlwollen und temporärer Kontrollverlust von weniger Hilfsbedürftigen sowie von Terroristen missbraucht wurde und wird. Auch der Antisemitismus wird nicht nur von den rechtspopulistischen und -extremen Gruppen befeuert, sondern er wird auch importiert – aus Ländern und Kulturen, in denen Judenhass selbstverständlich zur Sozialisierung gehört. Schließlich möchte ich den linksextremen Fanatismus nicht verschweigen, dessen systemfeindliches Agieren auch nicht zu tolerieren ist."

"Hölle oder Paradies? Wir haben es selbst in der Hand"

Insgesamt erleben wir ein ungeahntes Erstarken radikaler und brutaler Haltungen und Verhaltensweisen, das in Gewalttaten und Wahlergebnissen Niederschlag findet. Mein Leben hat mich vor allem eines gelehrt: Auf die Menschen kommt es an. Sie sind zu allem im Stande – im Guten wie im Schlechten. Wir haben es in der Hand, ob wir die Hölle oder das Paradies auf Erden erleben. ,Weida mitanand’ hieß vor dreieinhalb Jahren der Song, mit dem die Menschen in Bayern gezeigt haben, dass wir angesichts der Flut-Katastrophe zusammenstehen.

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Viele, die damals diese Benefiz-Aktion vorangebracht haben, sind auch heute dabei – sind Teil von Bellevue di Monaco. ,Weida miteinand’ ist ein wunderbares Motto, das auch im aktuellen Kontext passt: Wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen weitermachen – miteinander. Wir sind mehr und wir sind stärker – weil wir an das Gute im Menschen glauben, an das Gute in der Welt. Weil wir überzeugt sind, dass Menschlichkeit der Schlüssel zu Freiheit und Glück ist."

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