Historiker über Münchens Architektur: "Hochhäuser gehören dazu"
München - Er ist ein München-Kenner: Als Autor und Stadtführer teilt Reinhard Bauer mit Leidenschaft sein tiefes München-Wissen samt Anekdoten. Nach vielen Stadtteilbüchern, auch über Schwabing, stellt der Historiker sein neues Buch vor: "Münchens Bauten und Architektur im Wandel der Zeit." Ein Gespräch über den charakteristischen München-Kosmos heute — und damals, als der Zehnjährige aus Partenkirchen in die Großstadt zog.
AZ: Herr Bauer, was mögen Sie an München am meisten?
REINHARD BAUER: Die Stadt ist ein Kosmos aus ganz verschiedenen Stadtteilen, in denen jeder leben kann, wie er will, das schätze ich sehr. In München gibt es ein großes Leben und leben lassen. Es gibt überwiegend eine große Toleranz. Die AfD kommt bei uns nicht an. In München lässt es sich frei und sicher leben. Das ist wunderbar!
Für Ihr neues Buch haben Sie Stadtmuseum und Seidlvilla, große und kleine Bauten unter die Lupe genommen. Welche sind Ihre liebsten Gebäude?
Ich mag das Neue Rathaus am Marienplatz, in dem ich mich immer wohlgefühlt habe. Für das große Hauptzollamt mit der schönen Kuppel habe ich ein echtes Faible. Jeder sieht es, der über die Bahngleise mit dem Zug nach München hinein fährt. In diesem Bau ist der Jugendstil erhalten! Die Theatinerkirche ist für mich ein Wahrzeichen Münchens geworden, auch weil sie im Krieg relativ unzerstört geblieben ist. Das Italienisch-Barocke gehört einfach zur Stadt. Die Kirche ist auch prägend durch ihre gelbe Farbe.
"Die Vergangenheit war doch überwiegend furchtbar"
Und welche ist die schlimmste Bausünde?
Viele nennen den Kaufhof am Marienplatz. Inzwischen sehe ich den nicht so kritisch. Ich bedaure sehr die zweite Zerstörung Münchens: den Nicht-Wiederaufbau des Verkehrsministeriums, einem Jugendstilbau, und der ältesten romanischen Kirche St. Jakob am Anger. Alte Bauernhäuser in den alten Dorfkernen sind abgerissen worden. Ich bedaure das immer, aber ich verstehe es. Sie zu erhalten ist dem Eigentümer oder der öffentlichen Hand oftmals aus finanziellen Gründen schlicht nicht zuzumuten.
Was sagen Sie zu Hochhäusern?
Ich bin nicht gegen Hochhäuser, obwohl die für manche des Teufels sind. In äußeren Bereichen wie der Parkstadt Schwabing finde ich sie interessante Landmarken, an denen man sich orientieren kann. Ich teile die Skepsis nicht. Hochhäuser gehören zu einer Großstadt.
Sie kamen als zehnjähriger Bub aus Partenkirchen vom Land in die Stadt. Wie hat sich München in 60 Jahren verändert?
Für mich hat sich München in jeder Hinsicht positiv gemacht. Als Kind habe ich schon fast keine Trümmergrundstücke mehr gesehen. München hat durch seine vielen Neubauten nur gewonnen, finde ich. Doch eine Menge Menschen empfinden München mittlerweile als zu voll. In der Lerchenau, wo ich wohne, hat sich die Einwohnerzahl in 20 Jahren verdoppelt. Jeden Monat werden Einfamilienhäuser aus den 20er oder 40er Jahren abgerissen, die 80 oder 120 Quadratmeter Wohnfläche hatten, um dafür Häuser zu bauen mit 500 bis 1.000 Quadratmetern Wohnfläche — aufgeteilt in Eigentumswohnungen.
Stört Sie nicht, dass München immer geschleckter, bonziger und steriler wird?
Über Glasfassaden, sterile und protzige Architektur lässt sich natürlich streiten. Aber die Stadt hat sich äußerlich zum Positiven gewendet. Ich finde es zwar traurig, dass die Hinterhöfe verschwinden. Aber ich wüsste nicht, was man dagegen tun könnte. Ich erinnere mich gut an früher, wie in Haidhausen alte Leute zerlumpt herumgelaufen sind. Ich habe unzumutbare Wohnbedingungen mit Toiletten im Hof erlebt. Das ist zum Glück vorbei. Denn die Vergangenheit war überwiegend furchtbar!
Das ist ein interessanter Standpunkt.
Die Münchnerinnen und Münchner haben noch nie so gut gelebt wie jetzt. Es gibt praktisch keinen Hunger. Niemand muss frieren in dieser Stadt. Das sollte man einfach sehen. Die Obdachlosigkeit ist zwar individuell tragisch. Mein Mitleid ist groß, aber es hält sich auch in Grenzen. Denn es muss in München kein Mensch auf der Straße leben.
Sie waren SPD-Stadtrat und sind Vorsitzender des Seniorenbeirats. Aus Ihrer Zeit im Rathaus wissen Sie: Andere Städte schauen nach München.
München ist Vorbild. Delegationen aus ganz Europa kommen, um von unserer Stadtverwaltung zu lernen. Sozialer Bereich, Bau, auch Kultur, da sind wir führend in Deutschland. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden abgeworben. Das Wissen und die Erfahrung unserer Verwaltung werden in vielen Städten gesucht.
"Damals gingen Kinder barfuß zur Schule - nicht nur im Sommer"
Was charakterisiert München?
Dass man es hier geschafft hat, Ghettobildung zu vermeiden. Es gibt keine rechtsfreien Räume wie in Berlin oder in Nordrhein-Westfalen. Hier wurde auf die soziale Mischung geachtet. Ich habe 20 Jahre im Hasenbergl gelebt. München ist eine der Großstädte mit dem höchsten Migrantenanteil. Wenn man das bedenkt, stehen wir super da. Das Hasenbergl hat bis 70 Prozent Einwohner mit Migrationshintergrund. Offensichtlich gelingt in unserer Stadt das friedliche Zusammenleben besser als anderswo.
Was wünschen Sie der Stadt?
Dass das so beibehalten wird. Dass meine Enkel so leben können, wie wir heute. Ich bin mir mit meiner Generation einig, dass wir die beste Zeit überhaupt erlebt haben. Zu meiner Schulzeit gingen arme Kinder nicht nur im Sommer barfuß in die Schule. Mein Vater war evangelischer Pfarrer. Ich hatte fünf Geschwister, das war ohne Kindergeld nicht einfach. Auch ich habe mir als Kind Senf aufs Brot geschmiert und dabei an Würstel gedacht.
Wofür sollten die Münchner heute dankbar sein?
Dass meine Generation keinen Krieg erlebt hat, ist historisch einmalig. Vor uns gab es mindestens etwa alle 50 Jahre in Deutschland einen Krieg.
Wie regelt die Stadt jetzt denn die Wohnungsmisere?
Das ist sicher die Hauptaufgabe. Es war ein Irrtum, dass man in Deutschland glaubte, den Leuten geht es ja immer besser, also brauchen wir weniger Sozialwohnungen. Die Stadt mir ihren Wohnungsbaugesellschaften tut nun, was sie kann. Aber das Problem mit der Wohnungsnot wird auch in den nächsten Jahren nicht gelöst werden. Denn München ist attraktiv.
Problematisch ist ebenfalls, dass jeder ständig mehr Platz braucht, sagen Sie.
In meiner 120-Quadratmeter- Wohnung haben wir früher als Familie zu viert gewohnt. Jetzt wohne ich hier alleine mit meinen Büchern. So ist es bei vielen älteren Leuten.
"Alle wollen nach München - trotz seiner Architektur"
Wieso leben Sie überhaupt in München?
Wegen der Lebensqualität, die ist München spitze! Deswegen wollen alle am liebsten nach München, trotz seiner Architektur, die gar nicht so überragend ist.
Was macht Corona mit der Stadt?
Leider wird es Pleiten geben. Aber ich habe die Hoffnung, dass man individuelle Wege findet, Not zu überbrücken und Geschäftsleuten individuell unter die Arme zu greifen. Es gibt genügend Geld. Als Historiker sage ich: Nur ein Tag Krieg wäre eine viel größere Katastrophe im Vergleich zu Corona.
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