Hilferuf eines Oberbürgermeisters - Deutschland macht Grenzen dicht

Fast 18 000 Geflüchtete stranden an diesem Wochenende. München ist am Limit – und OB Dieter Reiter macht seinem Ärger Luft. Dann reagiert die Bundesregierung.
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) sieht müde aus, als er am Sonntagvormittag im Hauptbahnhof mit Sozialministerin Emilia Müller (CSU) und Regierungspräsident Christoph Hillenbrand (CSU) vor die Presse tritt. Müde, aber entschlossen. „Es war eine lange Nacht“, sagt er. Eine Nacht, in der München an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit gestoßen ist.
12 300 Geflüchtete sind am Samstag in der bayerischen Hauptstadt angekommen – so viele wie noch nie. 12 300 Menschen, die entweder untergebracht oder weitergeleitet werden mussten.
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In aller Eile hatte die Stadt hinter der Donnersbergerbrücke ein Zeltdorf mit 1000 Schlafplätzen errichtet. Ein Sonderzug um Mitternacht brachte zusätzliche Entlastung. „Die Kapazitäten haben gerade noch ausgereicht, so dass nur einige Dutzend im Freien schlafen mussten“, sagt Reiter wenige Stunden später.
Seit 31. August sind 63 000 Flüchtlinge in der Stadt angekommen
Insgesamt stehen in München nun mehr als 6000 Notbetten bereit. Auf dem Gelände der Bundeswehr-Universität in Neubiberg werden zusätzlich Zelte aufgebaut. Die Olympiahalle ist als weitere Notlösung im Gespräch. „Aber wenn die Zahlen so hoch bleiben“, sagt der Rathaus-Chef, „hilft uns das nur über den Tag.“
Die Stadt ist am Limit.
Seit 31. August sind 63 000 Asylsuchende am Hauptbahnhof gestrandet. Weit mehr, als der Freistaat im gesamten Jahr 2014 aufgenommen hat.
Vor dem Info-Point im Starnberger Flügelbahnhof, von dem aus die rund 4000 ehrenamtlichen Helfer koordiniert werden, macht Reiter nun seinem Ärger Luft. Seinem Ärger darüber, dass München und Bayern mit der hohen Zahl an Flüchtlingen seit Tagen weitgehend allein lassen gelassen werden: Außer nach Nordrhein-Westfalen, das täglich 1000 Neuankömmlinge aufnimmt, seien am Samstag nur acht Busse mit insgesamt 400 Menschen in andere Bundesländer gestartet. „Das ist einfach lächerlich. Es ist ein inakzeptabler Zustand, dass es die notwendige Solidarität bundesweit nicht gibt“, sagt er.
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Im niedersächsischen Fallingbostel soll zwar ein zweites „Drehkreuz“ zur Verteilung der Geflüchteten entstehen, das dann von Österreich direkt angefahren wird. Doch ob dieser Plan überhaupt Realität wird – und wann –, weiß niemand. Dieter Reiter: „Es ist zutiefst unbefriedigend, dass es nicht gelingt, irgendwo in der großen Bundesrepublik zwei weitere Drehkreuze auf die Beine zu stellen.“
Er sei verwundert, dass es so lange dauere, politische Überzeugungsarbeit zu leisten – „in einer Angelegenheit, die längst jeder Bürger versteht.“ Jeder Zug, der nicht nach München fahre, helfe weiter. Schon am Samstag hatte der Rathaus-Chef die anderen Bundesländer scharf kritisiert: Er finde es „absolut dreist, zu sagen: Wir sind am Anschlag“. Wer so spreche, solle sich in München ansehen, was „am Anschlag“ bedeute. Die Stadt übernehme gerade eine „nationale Aufgabe“ – als solche hatte die Bundeskanzlerin vor kurzem die Bewältigung der Flüchtlingskrise bezeichnet.
Nun sieht der Münchner OB Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Pflicht: „Die Bundeskanzlerin ist gefordert. Ich lade sie hiermit dazu ein, sich die Verhältnisse in München einmal anzuschauen.“ So, wie der Reporter des französischen Fernsehens, dem er gerade gesagt habe, dass die Offerte 1000 Flüchtlinge aufzunehmen, für die „Grande Nation“ doch eher ein „petite“ (kleines) Angebot sei.
Als Sofortmaßnahme wird um 11.21 Uhr ein Regelzug „humanitär gekapert“, wie Regierungspräsident Christoph Hillenbrand es nennt: Der ICE 1508 nach Berlin wird kurzfristig für die Flüchtlinge reserviert. 650 Asylsuchende reisen mit ihm gen Schönefeld. „Die Passagiere sind gebeten worden, umzubuchen“, sagt eine Sprecherin der Bahn.
Bis zum Nachmittag erreichen erneut 4500 Flüchtlinge die bayerische Hauptstadt, damit steigt die Zahl fürs Wochenende auf knapp 18 000. „Auf allem rollenden Material – in Zügen, Bussen und mit Taxis – sind in Österreich Asylbewerber in Richtung Deutschland unterwegs“, sagt Hillenbrand. Er ist sichtlich verärgert – und stellt klar: „Es ist logistisch nicht möglich, täglich eine Kleinstadt von 20 000 Menschen hier humanitär aufzunehmen und weiterzuleiten.“
Überraschende Wende: Um 17 Uhr wird der Zugverkehr gestoppt
Trotz der angespannten Situation gelingt es den Münchnern, rund 5200 Menschen entweder mit Zügen nach Dortmund und Leipzig zu schicken oder sie mit insgesamt 42 Bussen auf Unterkünfte in ganz Deutschland zu verteilen. „Wir sind wieder vor der Lage“, heißt es offiziell.
Dann reagiert Berlin: Die Bundesregierung führt an der Grenze zu Österreich vorübergehend Grenzkontrollen ein, um feststellen zu lassen, aus welchen Ländern die Flüchtlinge stammen und ob sie überhaupt eine Bleibeperspektive in Deutschland haben. 21 Hundertschaften machen sich auf den Weg nach Bayern. Um 17 Uhr wird der Zugverkehr von Österreich in die Bundesrepublik eingestellt.