Hebammenausbildung an der Maistraße endet: Die Kapitänin geht zuletzt
München - Das Modell mit dem unterschiedlich weit geöffneten Muttermund steht schon zum Einpacken bereit. Ein weibliches Becken aus hellem Leder, wie ein Medizinball. Das Büro von Sonja Opitz-Kreuter gleicht einem Warenlager. Überall stehen Transportboxen, medizinische Modelle und Unterlagen.
Sonja Opitz-Kreuter: Ihre letzte Amtshandlung
"Wir befinden uns im Stadium der Auflösung", sagt die Leiterin der Berufsfachschule für Hebammen und lässt den Blick über das Lehrerzimmer schweifen. Das Ausräumen ist ihre letzte Amtshandlung. Eigentlich wäre die 64-Jährige schon ein paar Monate früher in Rente gegangen. Aber die Abwicklung der Hebammenschule wollte sie doch noch höchstpersönlich vornehmen.
18 Hebammen werden hier gerade ausgebildet
Oder, so sieht es Naomi Hampl: "Sie ist extra für uns noch geblieben." Die 22-Jährige lernt im letzten Jahrgang der Hebammenschule, zusammen mit 17 weiteren jungen Frauen. 44 Jahre zuvor hat ihre Schulleiterin in den gleichen Räumen die Ausbildung begonnen. Gemeinsam mit der Frauenklinik der LMU residiert die Schule in einem malerischen, quadratischen Jugendstilbau, der einen kleinen Innenhofpark umschließt.
Die Ausbildung wird durch ein Studium ersetzt
Damit ist jetzt Schluss: Die Ausbildung wird eingestampft und durch ein Studium ersetzt. 2022 verlassen die ersten Studierenden der Hebammenkunde die Fachhochschule. Und die Maistraße 11 verwaist. Die Geburts- und Säuglingsstation der LMU ist schon Mitte Juni in den Neubau des LMU-Klinikums, direkt hinter dem Sendlinger Tor, umgezogen.
In der alten Klinik beginnt in einer Woche zum letzten Mal das schriftliche Examen. Dann wird Naomi Hampl von Schulleiterin Sonja Opitz-Kreuter und ihren Kollegen in Anatomie, Geburtshilfe, Pädiatrie, Krankheitslehre und Recht geprüft. Ihre Examensgeburt hat die junge Frau mit dem sanften Lächeln schon hinter sich.

Eine dramatische Examensgeburt
Es war dramatischer als ihr lieb war: "Eigentlich eine ganz normale Erstgebärende." Aber plötzlich waren die Herztöne des Babys weg und es musste mit einem Notkaiserschnitt geholt werden. Es war ein Schock, doch hinterher waren beide Prüferinnen zufrieden mit der Hebammenschülerin. Sie habe vorbildlich gehandelt und sei auch in der Notsituation ruhig geblieben.
Das ist in der Hebammenausbildung zentral: junge Frauen auf alle möglichen Komplikationen vorzubereiten. Etwa, wenn die Nabelschnur um den Hals gewickelt, die Schulter im Geburtskanal verkantet ist oder der Säugling zu wenig Sauerstoff bekommt.
Naomi Hampl war überrascht, wie schnell man ins "kalte Wasser geworfen wurde". Schon nach kurzer Zeit stand sie im Kreißsaal und assistierte erfahrenen Hebammen. Ob die Studentinnen praktisch genauso fit sein werden, wie die Hebammen-Schülerinnen? "Die Akademisierung des Berufs finde ich grundsätzlich richtig", sagt sie.
Komplexes Fachwissen und riesige Verantwortung
Das Fachwissen sei so komplex und die Verantwortung einfach riesig. "Aber die Verzahnung von praktischer Geburtshilfe und Lehre war hier schon einzigartig". Die Dozentinnen und Dozenten lehrten an einem Tag vor der Klasse die Steißlage, am nächsten betreuten sie gemeinsam mit einer Schülerin eine Schwangere - der Kreißsaal liegt keine 50 Meter vom Unterrichtsraum entfernt.
Das Lehrpersonal bleibt erhalten
Deshalb war es dem Direktor der LMU Frauenklinik Sven Mahner so wichtig, dass die Ausbildungsinhalte und auch das Lehrpersonal weiter Teil des neuen Hebammenstudiengangs bleiben. "Ich hoffe und erwarte, dass die Studentinnen praktisch genauso gut ausgebildet sind, wie die Hebammenschülerinnen", sagt Mahner.
Die Theorie lernen die neuen Studentinnen an der Katholischen Fachhochschule in Haidhausen. Ihre praktischen Einsätze machen sie ebenfalls in der Geburtshilfe des LMU-Klinikums in der Innenstadt.
Seit Mitte Juni macht Naomi Hampl ihre Praxisdienste bereits im Neubau. Dort ist alles moderner, sagt die Auszubildende. In der Maistraße hatten viele Patientenzimmer noch keine eigene Dusche und Toilette.
40 Geburten in drei Jahren Ausbildung
Die 22-Jährige hat in drei Jahren Ausbildung 40 Frauen geholfen, ihr Kind zur Welt zu bringen. Sie beschreibt den Umgang auf der Geburtsstation als familiär. "Das Besondere ist der Zusammenhalt untereinander", sagt Hampl.
Für ihre Frühschichten steht sie um fünf Uhr morgens auf. Um richtig wach im Kopf zu werden, stellt sich Hampl als erstes für ein paar Übungen auf die Yogamatte. Sie hat sich vor drei Jahren bewusst für die Hebammenschule entschieden - obwohl es in anderen Bundesländern schon den Studiengang gab. "Aber die Maistraße hatte einfach einen super Ruf", sagt Hampl.
Wohnen und Arbeiten in der Hebammenschule
Und so schläft, arbeitet und lernt die geborene Würzburgerin nun drei Jahre in dem fürstlichen gelben Jugendstilbau. Im ersten Stock ist das Wohnheim untergebracht. Heute können sich die Schülerinnen aussuchen, ob sie dort einziehen. Als Sonja Opitz-Kreuter die Schule besuchte, war es Pflicht. Wer abends das Gebäude verlassen wollte, musste ins Absentenbuch schreiben.

Um 22 Uhr schloss die Pforte. "Da musstest du schon sehr gute Gründe haben, wenn du später kamst", erzählt Opitz-Kreuter mit hoch gezogenen Augenbrauen. Nachtschwärmer mussten sich außerdem bei der Oberhebamme rechtfertigen.
Die Schulleiterin erzählt so lebendig, dass man sich direkt in einer ihrer Schulstunden sitzen sieht, gebannt von ihrem Vortrag über die Erstversorgung eines neugeborenen Säuglings. Sonja Opitz-Kreuter hat den Beruf nicht aus Verlegenheit gewählt. Aber würde sie es wieder machen? Pause. Sie überlegt sehr lange. "Mit allen Facetten betrachtet, würde ich ihn möglicherweise nicht mehr so ausüben wollen."
Ambivalente Gefühle gegenüber der Berufswahl
Dass sie so umständlich formuliert, liegt an dem ambivalenten Gefühl. Zum einen sei der Beruf schön wie kaum ein anderer: die enge Bindung zu den Frauen, die Geburten, die immer etwas Magisches hätten. Aber da ist eben auch die große körperliche Anstrengung, wechselnde Schichten, Wochenendarbeit und die hohe Verantwortung.
"Du musst im Kopf immerzu hellwach sein", sagt die Schulleiterin. Es sei geistig, physisch und emotional ein belastender Job. Aber in der Bezahlung spiegle sich das nicht wieder. Als Opitz-Kreuter 1977 angefangen hat, habe sie 1.200 Mark verdient. "Aber davon konntest du damals in München wenigstens noch leben", sagt sie.
"Viele könnten sich die Stadt schier nicht mehr leisten"
Heute verdienen Hebammen zwischen 2.000 und 2.400 Euro brutto. Aber in München kosten 50-Quadratmeter-Wohnungen mittlerweile um die 1.200 Euro. "Viele könnten sich die Stadt schier nicht mehr leisten" und müssten wegziehen, sagt der Klinikdirektor Sven Mahner, der seit mehreren Jahren selbst gegen den Mangel an Hebammen kämpft.
In einer Welt, in der vom Stadtverkehr bis zur Raumfahrt alles kontrollierbar ist, hat eine Geburt etwas Archaisches. Hebammen müssen auf hunderte verschiedene Szenarien gefasst sein. Und die genauen Handlungsabläufe kennen, etwa wenn plötzlich die Vitalwerte des Babys absacken.
Deshalb lernt Naomi Hampl gerade fast ununterbrochen. Von ihrem Schreibtisch aus hört sie den Muschelkalkbrunnen im Innenhof plätschern. Viele Abende sitzt sie auch nach acht Uhr noch dort, wenn der Hausmeister das Wasser abstellt.
Viele Schwangere haben Angst
Aber eine gute Hebamme misst sich nicht allein am Fachwissen. Viele Schwangere kommen mit Angst in den Kreißsaal. Naomi Hampl hat schon oft von Patientinnen gehört, dass ihre ruhige Art da sehr beruhigend wirke. "Auch wenn mein Herz eigentlich wie wild pocht."

Die Maistraße sei auch für die enge Betreuung und Ausrichtung nach den Wünschen und Bedürfnissen der Frauen bekannt, sagt Sonja Opitz-Kreuter. "Und wir haben hier eine Kaiserschnittrate von nur ein Viertel - das ist wenig im Vergleich", sagt sie.
Für Naomi Hampl endet am 30. September nur die dreijährige Ausbildung. Für Sonja Opitz-Kreuter endet eine ganze Berufslaufbahn. Sie wird die Türen hinter sich schließen, die sie vor 44 Jahren nervös als junge Frau das erste Mal betreten hat.