Interview

Geflüchteter aus Sierra Leone in Abschiebehaft: "Die Verunsicherung ist riesig"

Geflüchtete aus Sierra Leone protestieren seit über einem Jahr dafür, bleiben zu können. Nun sitzt einer von ihnen in Abschiebehaft – das liegt wohl auch an politischen Plänen aus Berlin.
Laura Meschede |
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Die Geflüchteten haben an verschiedenen Plätzen in München protestiert, hier zum Beispiel im Herbst 2021 am Königsplatz.
Die Geflüchteten haben an verschiedenen Plätzen in München protestiert, hier zum Beispiel im Herbst 2021 am Königsplatz. © imago images/aal.photo

München - Seit nunmehr einem Jahr protestiert eine Gruppe von mehr als 20 Menschen auf Münchens öffentlichen Plätzen gegen Abschiebungen nach Sierra Leone. Jetzt ist die Bedrohung für sie konkret geworden: Seit letzter Woche sitzt einer der Protestierenden in Abschiebehaft. Was bedeutet das für das Protestcamp? Ein Gespräch mit Richard Wilde von der Seebrücke Landshut.

AZ: Herr Wilde, der 24-jährige Chris K. sitzt seit mehr als einer Woche in Abschiebehaft. Was ist passiert?
RICHARD WILDE: Vor etwa drei Wochen hatte Chris einen Termin im Landratsamt. Ihm war, nachdem was ich weiß, nämlich das Asylsozialgeld gekürzt worden. Sein Anwalt hielt das für rechtswidrig und hat Widerspruch eingelegt. Also hat Chris einen Termin beim Landratsamt bekommen, um darüber zu sprechen. Als er dort ankam, wurde er von der Polizei erwartet. Sie haben ihn festgenommen und direkt in Abschiebehaft gebracht. Es wurde nicht einmal sein Anwalt kontaktiert. Gleich am nächsten Morgen wurde er dann zum Flieger gebracht.

"Als Unterstützer hängen wir in der Luft"

Die Abschiebung hat also bereits stattgefunden?
Nein, sie ist gescheitert, weil Chris sich geweigert hat, in das Flugzeug zu steigen. Aktuell ist er wieder in Abschiebehaft. Wahrscheinlich wird es nächste Woche den nächsten Abschiebeversuch geben. Als Unterstützer hängen wir gerade etwas in der Luft, weil das Gericht dem Anwalt immer noch keine Rückmeldung gegeben hat.

Auf was für eine Rückmeldung warten Sie?
Wir haben ärztliche Dokumente, die belegen, dass seine Frau die Abschiebung nicht durchhalten würde. Chris lebt seit sechs Jahren in Deutschland, er und seine Frau haben ein dreijähriges Kind, sie ist im fünften Monat schwanger. Während sie arbeitet, hat sich Chris um das Kind und den Haushalt gekümmert. Die Dokumente belegen, dass es für sie nicht möglich wäre, Schwangerschaft, Arbeit und Kinderbetreuung zu schaffen, wenn Chris nicht mehr da wäre. Schon der Abschiebungsversuch hatte schlimme Auswirkungen.

Inwiefern?
Als die Polizei Chris mitgenommen hat, hat sich seine Frau wahnsinnig aufgeregt. Daraufhin hat die Polizei sie wegen Suizidgefahr ins Bezirkskrankenhaus eingewiesen. Dort wurde sie dann einige Tage zwangsweise festgehalten. Wir haben für den Vorfall von der Polizei noch keine Bestätigung erhalten, aber wir haben sie zeitweise im Krankenhaus besucht und können bestätigen, dass sie dort in einer geschlossenen Abteilung untergebracht war. Inzwischen durfte sie das Krankenhaus wieder verlassen, aber die Angst und der Stress haben ihrer Gesundheit sehr geschadet. Die Ärzte haben bestätigt, dass ihre Schwangerschaft jetzt eine Risikoschwangerschaft ist.

Große Verunsicherung und Hilfsbereitschaft

Was ist in dieser Zeit mit ihrem Kind passiert?
Der Junge konnte zum Glück bei einer Freundin der Familie unterkommen. Aber gut geht es ihm nicht. Vor ein paar Tagen habe ich die Familie besucht, er ist ziemlich verstört. Als ich reinkam, ist er sofort panisch geworden und musste von der Mutter beruhigt werden. Danach hat er die ganze Zeit Bilder von seinem Papa gezeigt und geweint. Kein Wunder: Sein Vater wird vermutlich abgeschoben, die Gesundheit seiner Mutter ist in Gefahr. Für Kinder ist eine solche Situation schwer zu ertragen.

Was bedeutet die Abschiebung von Chris K. für die Leute des Münchner Protestcamps?
Die Verunsicherung ist riesig. Das Camp war ja auch der Versuch, durch den gemeinsamen Protest ein wenig mit der Ohnmacht umzugehen - und nicht mehr jede Nacht alleine Angst haben zu müssen, dass die Polizei wegen der Abschiebung kommt. Im Laufe des Jahres, in dem die Leute jetzt Tag und Nacht bei Wind und Wetter auf Münchens öffentlichen Plätzen protestiert haben, hat sich da eine enge Gemeinschaft gebildet. Die ist jetzt in Panik. In der Nacht von Chris Abschiebung haben fast 40 verschiedene Freunde und Familienmitglieder angerufen, die wissen wollten, was sie tun können.

Ungesetzmäßige Abschiebeversuche

Rechnen Sie damit, dass noch mehr der Protestierenden demnächst mit Abschiebungen zu rechnen haben?
Das ist gut möglich. Die Kanzlei, die mit dem Fall von Chris betraut ist, vermutet, dass das bayerische Innenministerium versucht, das neue "Chancen-Aufenthaltsrecht" zu unterlaufen, indem sie all jene Leute, die nach dem neuen Gesetz die Möglichkeit für eine Aufenthaltserlaubnis hätten, jetzt noch schnell abschieben, bevor das Gesetz in Kraft tritt. Chris lebt nämlich bereits seit sechs Jahren in Deutschland. Nach dem neuen Gesetz würde das für einen Aufenthalt reichen.

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Wie geht es jetzt weiter?
Wir versuchen jetzt, politischen Druck aufzubauen. Vergangenen Mittwoch haben wir vor dem bayerischen Innenministerium protestiert. Verschiedene Abgeordnete haben einen Brief an Innenminister Joachim Herrmann geschickt, und ihn gebeten, die Abschiebung auszusetzen. Und am 03. Dezember wird es um 14 Uhr am Gärtnerplatz eine Demonstration geben. Dort protestieren die Geflüchteten zusammen mit allen Unterstützern gegen die Abschiebung von Chris und allen anderen.

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2 Kommentare
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  • eule75 am 02.12.2022 16:49 Uhr / Bewertung:

    Wenn das Schicksal ungewiss ist, sollte man kein Kind auf die Welt setzen. Verantwortungslos.

  • Chris_1860 am 02.12.2022 10:06 Uhr / Bewertung:

    Was natürlich wieder nicht im Artikel steht ist, warum er abgeschoben werden soll, während andere eine Duldung oder Anerkennung haben.

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