Freikirche feiert im Neuraum: Gottesdienst als Popkonzert
München - Es ist Sonntag, 12 Uhr. Was wie ein Popkonzert aussieht, ist der Beginn der "Celebration" der International Christian Fellowship (ICF) Church München. "Celebration" (Feier), so heißt der Gottesdienst beim ICF. Rund hundert Leute sind in die Diskothek Neuraum an der Hackerbrücke gekommen, um gemeinsam Gott zu feiern.
"Neue Freikirchen" gewinnen Mitglieder
Normalerweise, ohne Corona-Beschränkungen, sind es rund 2.000 Besucher pro Woche. Das Besondere dabei: Die Menschen sind auffallend jung, die meisten um die 40, viele unter 30 Jahre alt.
Während in der evangelischen und katholischen Kirche die Bänke oft leer bleiben, werden sogenannte "neue Freikirchen" wie das ICF immer größer. "Neu" sind sie, weil es sie tatsächlich erst seit wenigen Jahren gibt.
Glauben für junge Leute: Viel Show und Popmusik
Das ICF wurde 1996 in der Schweiz gegründet, die "Church" (Gemeinde) in München 2004. Damals kamen noch nicht einmal hundert Menschen. Eine andere neue Freikirche ist Hillsong, auch sie zieht Tausende Menschen an. Seit 2011 ist sie in Deutschland vertreten, in Australien wurde sie schon 1983 gegründet. Das ICF und Hillsong bereiten den Glauben gezielt für eine junge Zielgruppe auf: mit Popmusik, Showeffekten und lebensnahen Predigten.

"Was gepredigt wird, wird beim ICF auch wirklich gelebt — und nicht nur auf der Bühne gesagt", sagt Isabelle Rauscher. Seit rund sieben Jahren geht die 21-Jährige zur Church in München. Bei ihrem ersten Besuch saß sie in der hintersten Reihe, heute steht sie als zweite Sängerin auf der Bühne. Während der Predigt notiert sie sich in ihrer Bibel, was der Pastor vorträgt.
Pastor in Jeansjacke und Sneakern
Die Predigt im letzten Gottesdienst beispielsweise trug den Titel "Just open it" ("Öffne sie einfach"). "It" meint die Bibel. Es ging also darum, die Bibel zu lesen - auch, wenn die Bibel "nervt", sagt Pastor Markus Kalb. Da stand Markus Kalb in Jeansjacke, Karo-Hemd und Sneakern auf der Bühne. "Ich verstehe nicht alles in der Bibel", gesteht er, aber: "Wenn ich die Bibel aufschlage, merke ich, dass mein Leben zum Besseren wird." Er gestikuliert wild, malt Kreise in die Luft, schreitet hin und her.

Sein Auftritt erinnert an einen Life-Coach, der eine Motivationsrede hält. Die wichtigsten Worte werden auf zwei Flächen an die Wand gebeamt. Zum Beispiel aus Psalm 1: "Glücklich zu preisen ist, wer Verlangen hat nach dem Gesetz des Herrn und darüber nachdenkt Tag und Nacht." Pastor Kalb zitiert viele Bibel-Verse, alle mit der Botschaft: "Wenn wir die Bibel ernst nehmen, dann wird unser Leben aufblühen."
Begegnung mit Gott im Mittelpunkt
Trotz der modernen Predigten, hippen Pastoren und Popsongs zeigt sich beim ICF immer wieder: Im Mittelpunkt steht die Begegnung mit Gott. Es gehe nicht um eine Party, sagt der Pressesprecher vom ICF München, Konstantin Fritz.
Die Inszenierung sei aber ein Mittel, um den Glauben auf zeitgemäße Art erfahrbar zu machen. "Wir leben Gott", sagt Fritz, "und die Liebe unter den Menschen".
Kirche in Kleingruppen
Die Menschen beim ICF und ihre Gemeinschaft sind auch der Grund, warum Boas Kliebisch jeden Sonntag zur Celebration geht. Sie zeigen ihm, dass er nicht allein mit seinem Glauben ist, sagt er. In seinem Studium der Religionswissenschaft sei der 23-Jährige der Einzige, der an Gott glaubt. Mit seinen Freunden vom ICF könne er sich dagegen über Glaubensfragen austauschen. Oder mal einfach nur ein Bier trinken. "Ich fühle mich hier zugehörig", sagt er. In der Freizeit leitet er außerdem die "Young Adults"-Gruppen für junge Erwachsene vom ICF München.

"Young Adults", Bibellesen, Zumba oder Barista: Das ICF München hat verschiedenste Kleingruppen. Die Kirche werde so zum festen Bezugspunkt im Alltag, sagt Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Pöhlmann sieht darin jedoch die Gefahr, dass jemand seine sozialen Kontakte möglicherweise ausschließlich auf die Kirche beschränkt, oder gar kein Verständnis für andere Glaubensrichtungen mehr zeigt. "Wenn man die eigene Frömmigkeitsform als die einzig richtige interpretiert, wird es schwierig."
Zu seiner Beratungsstelle seien beispielsweise Eltern gekommen, deren Tochter zum ICF gehe und ihnen nun vorwirft, dass sie nicht die Bibel lesen.
Die Bibel als Fundament der "Freikirche"
Die Bibel gilt in Freikirchen als Fundament des Lebens. Nach Pöhlmanns Ansicht ist dieses Denken aber verkürzt: "Die Bibel gibt nicht sofort und für alle Lebenslagen Antworten, so einfach ist es nicht." Einige Passagen dürften nicht wortwörtlich verstanden werden, sondern müssten abstrahiert werden. Die Bibel sei kein "Ratgeberbuch".
ICF München-Pressesprecher Fritz hat für diesen Vorwurf kein Verständnis: "Die Bibel ist die beste Botschaft, die es in diesem Universum gibt. Ein gigantischer Liebesbrief von Gott an die Menschen." Wer die Bibel "wirklich" lese, nicht nur aus kritischer Distanz, würde bemerken, welche positive Botschaft sie für einen selbst bereithält.
Trotz seiner Kritik an den neuen Freikirchen lobt Pöhlmann, dass sie junge Menschen erreichen. Die Volkskirchen, sagt er, könnten von ihnen lernen.
Gottesdienst in der Disco kommt an
Wenn Boas Kliebisch in seinem Nebenjob als Barkeeper den Gästen erzählt, dass er am nächsten Tag Gottesdienst in einer Disco feiern wird, seien diese erstaunt. Die neuen Freikirchen brechen die Vorstellung, die die meisten Menschen von Kirche haben.

Längst kommen zudem nicht nur Jugendliche und junge Erwachsene in die Celebrations. Laut Pressesprecher Fritz sind beim ICF München von Babys bis zu 80-Jährigen alle Altersklassen vertreten.
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